Sozialdrama

Sorry We Missed You: Kein Geld, keine Würde

Anfangs sieht Ricky Turner (Kris Hitchen) die Arbeit eines Paketzustellers noch als Glücksversprechen.
© Filmladen

In Ken Loachs Sozialdrama „Sorry We Missed You“ versucht ein Arbeiter den Aufstieg in die Selbstständigkeit und übersieht dabei das Kleingedruckte der neuen Ökonomie.

Von Peter Angerer

Innsbruck –Nach jahrelanger Gewöhnung an Not und Erniedrigung sieht ein Mann plötzlich einen Sonnenstrahl. Von dem ihm angebotenen Job trennt ihn allerdings ein eigenes Fahrzeug. Für die Aussicht auf etwas Glück ist seine Familie bereit, auf alles Notwendige zu verzichten. Allerdings stürzt die Investition die Betroffenen nur in noch tieferes Elend. Das ist grob nacherzählt die Geschichte des ersten Meisterwerks von Vittorio De Sica, der 1948 mit „Fahrraddiebe“ eines der neorealistischen Schlüsselwerke ablieferte. Lässt sich aber die emotionale Wucht dieses Klassikers der Filmgeschichte 70 Jahre später im bereits von sozialen und ökonomischen Krisen erschütterten 21. Jahrhundert noch einmal glaubwürdig transportieren?

Ken Loach, seit 1967 der große Kinochronist des Niedergangs der englischen Arbeiterklasse, ersetzt in seinem Film „Sorry We Missed You“ das Fahrrad, mit dem Antonio Ricci bei De Sica als Plakatkleber sein Auslangen finden könnte, einfach durch einen Lieferwagen. Ricky Turner (Kris Hitchen) könnte damit Pakete zustellen. Am Anfang erzählt er die Biografie eines Arbeiters, der am Fahrkartenschalter des Lebens schlecht beraten in die falsche Richtung geschickt wurde. Deshalb erkennt der Logistik-Manager Maloney (Ross Brewster) in Ricky nach Sekunden den rechtschaffenen Arbeiter, den man nicht lange mit dem Kleingedruckten in Knebelverträgen belästigen muss.

Tatsächlich klingt alles sehr verlockend, wenn nur Rickys Frau Abbie (Debbie Honeywood), eine Krankenpflegerin, bereit ist, ihren Kleinwagen gegen die Kaution für den Transporter zu tauschen. Verzicht heißt damit die Devise für das neue Leben, das mit 14-Stunden-Tagen für Ricky und 12-Stunden-Tagen für Abbie diese Benennung nicht mehr verdient. Lebensqualität und Libido verschwinden, die beiden pubertierenden Kinder werden in der Schule auffällig.

Die Dynamik der Regeln der Selbstständigkeit erfährt Ricky als Sturz in die Abgründe der neuen Ökonomie, die den Schwachen jedes Risiko auf die Schultern wuchtet. Nach einem Überfall muss der unfreiwillige Unternehmer nicht nur für den Schaden aufkommen, das Kleingedruckte verurteilt ihn auch zu einer Strafe, weil er sich schwer verletzt im Krankenhaus scheinbar einen Urlaub gönnt, ohne sich zuvor um einen Ersatzfahrer gekümmert zu haben. Zuerst ist das Geld weg, dann die Würde.

Schon zweimal hat Ken Loach, Jahrgang 1936, seit 2014 seinen Rückzug vom Kino angekündigt. Bereits 2016 wurde er rückfällig und triumphierte 2016 mit „Ich, Daniel Blake“ (über die Privatisierung der britischen Sozialwirtschaft) zum zweiten Mal beim Festival in Cannes.

„Sorry We Missed You“ ist eine Hommage an das sozialkritische Kino, das so eng mit Loach verbunden ist. In der Ära von Margaret Thatcher durften Loachs Filme nicht im britischen Fernsehen ausgestrahlt werden. Dabei waren ohnehin nur Arbeiter zu sehen, die um ihr Überleben kämpfen mussten, sodass keine Kraft für Auflehnung übrig blieb. Thatchers Verneinung von Gesellschaft zielte in den 1980er-Jahren darauf ab, die Solidarität aus dem Gedächtnis zu tilgen. In der Ära der Ich-AGs ist Solidarität endgültig verschwunden, es gibt nur noch Konkurrenten.

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