SOS Mitmensch vermisst Konkretes zur Integrationspolitik

Die Menschenrechtsorganisation SOS Mitmensch hat die türkis-grüne Integrationspolitik auf den Prüfstand gestellt und vermisst dabei eindeutige Maßnahmen. In einem am Montag präsentierten Bericht von 28 Expertinnen und Experten wird bemängelt, dass integrative Pläne meist sehr unkonkret formuliert sind - im Gegensatz zu den desintegrativen. Die Finanzierung ist bei vielen Vorhaben noch offen.

Um die Integrations- und Desintegrationspolitik auf Bundesebene zu beurteilen, wurden für den Integrationsbericht 28 Ankündigungen des Regierungsprogramms von ÖVP und Grünen, 14 gravierende integrationspolitische Lücken und sechs markante Nachwirkungen der türkis-blauen Regierungszeit unter die Lupe genommen. Das Ergebnis: 58 Prozent der Ankündigungen, Lücken und Nachwirkungen werden von den Experten als desintegrativ bezeichnet, berichtete SOS Mitmensch gemeinsam mit einigen Autoren.

Betrachtet man rein die Ankündigungen im türkis-grünen Regierungsprogramm, werden zwar 50 Prozent als integrativ bewertet. Diese sind den Experten zufolge aber sehr unkonkret. Als desintegrativ bewertet wurden etwa separierte Deutschklassen, Ausbildungs- und Arbeitsverbote und Sozialkürzungen. Integrativ seien etwa der angekündigte Aktionsplan gegen Rassismus und Diskriminierung, ein verstärkter Fokus auf die Integration von Frauen und eine Ausbildungsoffensive zu Deutsch als Zweitsprache.

Judith Kohlenberger, Kulturwissenschafterin am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien, hofft, dass für alle möglichen Absichtserklärungen wie den Nationalen Aktionsplan auch die nötigen Ressourcen in die Hand genommen werden. Die finanzielle Ausgestaltung sei bisher unklar, sagte sie am Montag. Dabei seien Maßnahmen dringend notwendig, denn die Diskriminierung von Migranten sei nach wie vor hoch, berichtete sie.

Als Beispiel nannte Kohlenberger eine Untersuchung zu Einladungen für Bewerbungsgespräche. Bei gleicher Qualifikation und identem Lebenslauf werden Österreicher demnach 1,5 Mal so oft eingeladen wie Migranten und sogar doppelt so oft wie Menschen mit schwarzer Hautfarbe. „Bei Diskriminierung von Menschen mit nicht weißer Hautfarbe liegt Österreich im europäischen Spitzenfeld“, so Kohlenberger. „Rassismus ist nicht nur in den USA ein Thema“, sagte sie.

Die Erziehungswissenschafterin Inci Dirim machte darauf aufmerksam, dass man die Mehrsprachigkeit von Migrantinnen und Migranten viel mehr als berufliche Kompetenz fördern müsse. In Schulen und bei der Polizei geschehe das schon manchmal, oft fehle allerdings die Möglichkeit, aus einer in der Familie gesprochenen Sprache eine berufliche Qualifikation zu machen. Die angekündigte Aus- und Weiterbildungsoffensive zu Deutsch als Zweitsprache findet Dirim „begrüßenswert“, ist aber ebenso wie Kohlenberger gespannt auf die Finanzierung, wie sie sagte.

Auf ein anderes Problem wies der Soziologe, Politologe und Migrationsforscher Rainer Bauböck bei der Pressekonferenz hin. Er ortet eine „auffällige Lücke“ im türkis-grünen Regierungsprogramm, und zwar bezüglich Staatsbürgerschaft und Wahlrecht für Migranten. Diese Lücke verursache Defizite der sozialen und politischen Integration, kritisierte er. Im 15. Bezirk in Wien seien etwa 42 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung nicht stimmberechtigt, sagte der Universitätsprofessor und zeigte nicht nur die Bedeutung für den Einzelnen, sondern auch die weiterführende Konsequenz auf: „Politische Parteien kämpfen nicht um die Stimmen von Einwanderern“, so Bauböck. „Sie finden Österreich in einem Teufelskreis“, ergänzte er.

Auch die Hürden bei der Einbürgerung seien in Österreich im internationalen Vergleich sehr hoch, sagte Bauböck. Deswegen habe Österreich auch eine niedrige Einbürgerungsquote. Dass bezogen auf diese „gravierende Lücke“ im Regierungsprogramm nur „Schweigen“ herrsche, findet er nicht gut. Die Regierung selbst habe große Vorbildwirkung, fügte SOS-Mitmensch-Sprecher Alexander Pollak hinzu. Im Regierungsprogramm fehle die Wertschätzung gegenüber Minderheiten, sagte er und forderte die Politik dazu auf, diese Wertschätzung zu zeigen.

Integrationshaus-Geschäftsführerin Andrea Eraslan Weninger übte zwar auch Kritik an der Regierung und forderte unter anderen eine qualitätsvolle Grundversorgung von Geflüchteten, merkte aber auch an, dass im Vergleich zur türkis-blauen Regierung nun wieder ein Dialog mit der Politik möglich sei. „Vielleicht kommt unser Bericht ja genau zur richtigen Zeit“, hofft Pollak deswegen und präsentierte acht Forderungen an die aktuelle Regierung.

Dazu gehören etwa eine Konkretisierung und die Umsetzung von integrativen Ankündigungen, die Rücknahme von desintegrativen Ankündigungen und eine Überarbeitung von ambivalenten Maßnahmen. Gleichzeitig sollen integrationspolitische Lücken geschlossen werden, ebenso wie sich SOS Mitmensch wünscht, den desintegrativen Nachwirkungen von Türkis-Blau entgegenzuwirken. „Der Zug der türkis-blauen Regierung Richtung Desintegration wurde zwar gestoppt, aber noch nicht gewendet“, so Pollak.

Anders als einige Experten sieht die SPÖ keine große Kursänderung der Integrationspolitik von Türkis-Grün im Vergleich zu Türkis-Blau. „In den ersten Monaten der ÖVP-Grünen-Regierung sehen wir leider die Fortführung der Symbolpolitik der Kurz-Strache-Regierung“, kritisierte SPÖ-Integrationssprecherin Nurten Yilmaz. „Unter Türkis-Grün ist leider kein Einstieg in eine echte Teilhabepolitik gelungen“, prangerte sie an und nannte etwa die Trennung von Kindern in Deutschklassen als Beispiel. „Es wird Zeit, dass sich Ministerin Raab ihrer Rolle als Integrationsministerin annimmt und offensive Interessenspolitik für die Rechte und Gleichstellung von Migrantinnen macht“, forderte Yilmaz Ministerin Susanne Raab (ÖVP) zum Handeln auf. „Davon ist weit und breit keine Spur“, so Yilmaz.

Stattdessen werde „die türkis-blaue Schallplatte immer wieder aufgelegt und die soziale und symbolische Spaltungspolitk vorangetrieben - besonders gerne dann, wenn die ÖVP in der Öffentlichkeit durch Skandale unter Druck gerät“, vermutet die Integrationssprecherin. Yilmaz wünscht sich daher einen Kurswechsel - eine „kluge Integrationspolitik“, die das Miteinander stärkt, in die gemeinsame Zukunft investiert und Teilhabe organisiert.

Die Grüne Nationalratsabgeordnete und Integrationssprecherin Faika El-Nagashi begrüßte den SOS-Mitmensch-Bericht. „Eine kritische Bewertung des Regierungsprogramms ist Ansporn und Unterstützung für unsere Arbeit“, teilte sie mit. Der Bericht sei sehr umfassend ausgefallen und erinnere an die „vielen langjährigen Baustellen im Integrationsbereich“, sagte sie. „Dazu zähle ich vor allem Reformen beim Wahlrecht und bei der Einbürgerung, aber auch Hürden im Bereich des Niederlassungs- und Aufenthaltsrechts“, so El-Nagashi. „Wir sind in der Integrationspolitik nicht dort, wo ich uns gerne sehen würde.“

Die evangelische Diakonie beurteilte das türkis-grüne Regierungsprogramm nach der Präsentation des Integrationsberichts durch SOS Mitmensch mit gemischten Gefühlen. Einige Vorhaben in Sachen Asyl und Integration begrüße man und dränge auf rasche Umsetzung, während man bei anderen „ebenso dringend abraten“ müsse, erklärte Christoph Riedl, Asyl- und Integrationsexperte bei der Diakonie. Riedl war einer der 28 Experten, die für den Bericht von SOS Mitmensch die Integrationspolitik der Bundesregierung untersucht haben.

Der Warnung des Berichts vor der geplanten Isolation schutzsuchender Menschen durch den weiteren Ausbau abgelegener Flüchtlingsquartiere schließt sich die Diakonie vollinhaltlich an: Es sei eine „notwendige Voraussetzung für gute Integration, dass Menschen im Asylverfahren nicht isoliert werden“, betonte Riedl.

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