Historiker Jürgen Zimmerer „Sehgewohnheiten radikal brechen“
Hinter dem aktuellen Streit um Kolonialdenkmäler sieht der Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer ein Ringen um unsere Identität und Werte. Wer als Vorbild taugt, müsse jede Generation neu aushandeln.
Hamburg –Die Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt haben auch eine Debatte über Symbole und Denkmäler ausgelöst. Im englischen Bristol etwa stürzten Aktivisten die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston ins Hafenbecken. Zugleich formiert sich eine Gegenbewegung. Die TT sprach darüber mit dem Hamburger Geschichtsprofessor und Kolonialismus-Experten Jürgen Zimmerer.
Die einen sagen, die Denkmäler einer rassistischen Vergangenheit müssen weg. Die anderen sagen, die Geschichte kann man nicht umschreiben. Wer hat Recht?
Jürgen Zimmerer: Beide haben Recht. Die Geschichte existiert, wie sie ist. Aber man kann die heroisierten Elemente staatlicher und rassistischer Gewalt entfernen, weil sie nicht mehr akzeptabel sind. Ich betrachte es nicht als vorbildstiftend für das 21. Jh., wenn man einen Sklavenhändler ehrt – oder Politiker wie Otto von Bismarck, die für eine vormoderne und antidemokratische Politik stehen.
Ich bin aber als Historiker daran interessiert, dass historische Quellen erhalten bleiben. Dazu gehören Monumente. Deshalb schlage ich vor, dass man Denkmäler erhält, aber ihre Appellationskraft bricht, indem man sie hinlegt, auf den Kopf stellt oder halb eingräbt – oder bei Gebäuden die Fassade bricht.
Wie darf man sich das vorstellen?
Zimmerer: In Berlin wird gerade ein koloniales Denkmal fertiggestellt, nämlich das Hohenzollern-Stadtschloss mit dem Humboldt-Forum. Erst vor drei Wochen wurde das Kreuz auf die Kuppel montiert, das in diesem Fall auch für die Missionierung der Welt und damit eine der zentralen Legitimationsideologien des Kolonialismus steht. Und da war mein Vorschlag, dass man über die Fassaden Stacheldraht zieht, der auch auf die Konzentrationslager und den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts an den Herero und Nama (im damaligen Deutsch-Südwestafrika, Anm.) verweist.
Die Denkmäler sollen also nicht entfernt, sondern quasi adaptiert werden?
Zimmerer: Ja, und eben nicht nur so, dass man ein erklärendes Täfelchen dranmacht. Das hilft nichts, wenn sie – wie in Hamburg – einen 30 Meter hohen Bismarck haben. Man muss die Sehgewohnheiten radikal brechen und zur Auseinandersetzung damit zwingen, wofür ein Denkmal steht.
Der Akt, die Colston-Statue in Bristol ins Wasser zu werfen, hat ja selbst ein dekoloniales Denkmal geschaffen. Das ist zugleich eine Form von Aktionskunst und auf Video festgehalten – und ein Gegendenkmal deshalb, weil Colston ja begründet vorgeworfen wird, dass er mehrere tausend afrikanische Sklaven hat über Bord werfen lassen.
Dann unterstützen Sie also diese Angriffe auf Statuen? Andere kritisieren dies als Vandalismus ...
Zimmerer: Ich unterstütze das nicht, sondern ich bin Beobachter und versuche zu erklären, warum man zu dieser Gewalt gegen Objekte kam. In Bristol gab es über Jahre Debatten und vergebliche Versuche, wenigstens eine Tafel anzubringen. Dass die Leute dann irgendwann das Gefühl haben, sie müssten selbst aktiv werden, ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Ich würde mir wünschen, dass die öffentliche Hand Partizipationsmöglichkeiten für alle schafft, die die gewaltlose Veränderung ermöglichen. Das sollte eine der Lehren sein.
Kolonialdenkmäler bedeuten für viele Leute auch eine Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit – siehe etwa die Brexit-Bewegung. Spielt sich hier ein Kulturkampf ab?
Zimmerer: Das ist des Pudels Kern, dass wir eine zunehmend virulenter werdende Identitätsdebatte haben. Wofür steht unsere Gesellschaft? Was ist das Normenfeld? Wer darf seine Wünsche artikulieren und auf wen wird Rücksicht genommen? Das erklärt, dass man jetzt über diese Denkmäler eine Abstimmung mit den Füßen herbeiführt – also durch Demonstrationen.
Der Diskurs wird noch von der weißen Mehrheitsgesellschaft, überwiegend Männern, dominiert. Es geht darum zu sagen: Die Gesellschaft hat sich geändert, und wir wollen, dass auch andere zu Wort kommen. Ein Teil der Gesellschaft zementiert sich auf der Gegenseite ein, und so werden Denkmaldebatten zu Denkmalkämpfen.
Da werden ja plötzlich Leute verteidigt, die man nicht verteidigen kann. Robert Koch etwa hat gegen den Willen von Patienten an ihnen Medikamente mit schwersten Nebenwirkungen getestet. Wenn das Ihr Arzt macht, setzen Sie ihm kein Denkmal.
Die Leute, um die es da geht, haben in einer anderen Zeit gelebt. Wo zieht man die Grenze?
Zimmerer: Natürlich muss man die Leute immer aus ihrer Zeit heraus beurteilen. Aber eine Denkmalsetzung ist ein Akt aus unserer Zeit. Und wenn wir über ein Denkmal debattieren und es stehen lassen, dann ist das ein Neusetzungsakt. Dafür maßgeblich sind unsere Werte des Jahres 2020. Und darüber müssen wir diskutieren.
Die Geschichte im öffentlichen Raum, die Gedächtnispolitik, ist eine Verständigung von uns heute. Sie haben es selbst gesagt: Der Brexit, die Denkmaldebatte und die imperiale Nostalgie gehen Hand in Hand. In Großbritannien hat eine knappe Mehrheit entschieden: Wir wollen zurück zu unserer Insel-Identität und zu unserem Empire, weil wir das positiver sehen als das Multinationale, das die EU von uns verlangt. Da geht’s um die Gegenwart.
Die Kunsthistorikerin Erin L. Thompson sagte, dass der Erhalt von Denkmälern die Ausnahme darstellt. Alle Generationen haben alte Denkmäler entfernt und neue aufgestellt. Wir leben aber jetzt in einer relativ langen Phase des Friedens mit ausreichend Ressourcen, um Denkmäler zu erhalten – und plötzlich halten wir es für normal, dass diese für immer stehen ...
Zimmerer: Die Verständigung über die Gegenwartsidentität ist auch eine über die Vergangenheit und umgekehrt. Welche Vorbilder wir haben oder nicht, ist kein abgeschlossener Prozess. Das muss von Generation zu Generation, dass muss permanent neu ausgehandelt werden.
Wenn man jetzt eine Denkmal-Landschaft einfrieren will, dann will man auch bestimmte Vorstellungen von der Gesellschaft einfrieren. Anders ist es nicht zu erklären, dass es in einer Debatte über Kolonialismus plötzlich heißt: Und dann wollen sie auch noch Gendersternchen. Das hat zwar mit der Debatte nichts zu tun, aber aus der Sicht vieler Gegner von Umbenennungen ist das alles eines – die Zumutungen der Moderne und Postmoderne.
Viele Menschen haben das Gefühl, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Es gibt tektonische Verschiebungen im Übergang von der kolonialen zur postkolonialen Globalisierung. Das schafft Unsicherheit. Aus der Angst vor Veränderung entsteht der Wunsch, etwas einzufrieren.
Aber die Angst vor der Veränderung ist der sichere Weg in den Untergang. Fragen Sie die letzten Verantwortlichen der DDR, wie man etwas einzementieren kann, wenn es in Bewegung geraten ist.
Wir haben bisher nur über alte Denkmäler gesprochen. Braucht es auch neue?
Zimmerer: Eine Gesellschaft braucht Denkmäler. Das Holocaust-Denkmal in Berlin etwa zeigt, dass die Gesellschaft sich darauf geeinigt hat, dass wir diesen Teil unserer Geschichte extrem kritisch sehen. Wenn man meinen Vorschlag aufnimmt, Denkmäler in Gegendenkmäler zu verwandeln, indem man sie umlegt, auf den Kopf stellt usw., dann schafft man automatisch auch neue Denkmäler, ohne die alten zu verbieten.
Die Frage zielte auch darauf ab, ob es Leute gibt, die von der bisherigen Geschichtsschreibung übersehen worden sind, etwa Frauen ...
Zimmerer: Auf jeden Fall. Die Denkmal-Landschaft, wie wir sie haben, zeigt ein weißes, männliches Bild, weil die öffentliche Wahrnehmung zu jener Zeit andere Teile der Gesellschaft ausgegrenzt, zum Verstummen gebracht hat. Dass man bei Neusetzungen völlig andere Maßstäbe ansetzt, halte ich für zwingend notwendig. Statt Otto von Bismarck könnte man ja Greta Thunberg raufsetzen – da wär’ was los! (lacht)
Das Gespräch führte Floo Weißmann