Sprachentwicklung: Keine Babyhändchen am Handy
Handys schaden der Sprachentwicklung. Egal ob Babys zu oft darauf herumklimpern oder deren Eltern. Denn Sprache besteht neben Wörtern auch aus Zwischenmenschlichem.
Von Judith Sam
Innsbruck –Acht Uhr morgens, die Familie sitzt am Frühstückstisch beisammen – aber nicht zusammen. Denn deren Blicke sind in Smartphones vertieft. Papa sucht ein Rezept für mittags, Mama liest ihre Mails und sogar das Baby pratzelt am Tablet herum.
In so manchem Haushalt hat man den Eindruck, Kleinkinder entdecken die Welt heute virtuell statt beim Spielen mit Eltern und Geschwistern. „Das kann die kognitive und emotionale Entwicklung sowie den Spracherwerb beeinflussen“, sagt Neurowissenschafterin Jutta Mueller.
Das Wort „Handy“ zählt zu einem der ersten, das Kinder beherrschen
So zeigte eine Studie kanadischer Forscher, für die 900 Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren beobachtet wurden, dass das Risiko einer Sprachverzögerung schon bei 30 Minuten am Bildschirm täglich um 49 Prozent steigt. Trotzdem zählt das Wort „Handy“ zu einem der ersten, das Kinder beherrschen.
Mueller ist darüber nicht überrascht: „Rund um ihren ersten Geburtstag sprechen Kinder erste Worte. Die sind meist ein- bis zweisilbig und beziehen sich auf Alltägliches wie Papa, Katze, Auto oder eben Handy. Nicht greifbare Begriffe wie Freundschaft oder Liebe folgen später.“
So viel zu den allgemeinen Fakten. Individuell kann jeder entscheiden, wann er seinem Kind ein Smartphone gewährt. Das Statistik-Portal Statista ermittelte, dass im Jahr 2019 95 Prozent der zwölfjährigen Deutschen eines besaßen, 75 Prozent der Zehnjährigen und sechs Prozent der Sechsjährigen.
Praktisch sind sie ja. Kann man seinen Nachwuchs doch jederzeit anrufen und fragen, ob es ihm gut geht, wenn er bei Freunden ist. Manche Apps versprechen zudem Lernerfolge. Die sieht die Osnabrücker Forscherin jedoch kritisch: „Da wird angepriesen, dass Kleinkinder anhand einer App sprechen lernen. Doch Sprache besteht aus mehr als Wörtern. Um sie zu verinnerlichen, müssen Babys das Gesicht ihrer Bezugsperson sehen – deren Mimik, Gestik und Haltung. Sie müssen Wörter hören und Emotionen damit verbinden.“
Die schrittweise Vorbereitung des Gehirns auf die Sprache
Während der ersten drei Lebensmonate widmen Babys Gesichtern besonders viel Aufmerksamkeit. Deren Schema, bestehend aus zwei Kreisen für die Augen und zwei Strichen für Mund und Nase, ist quasi schon vorprogrammiert. Dieses Fokussieren der Aufmerksamkeit ist ein Indiz für die Lernbereitschaft des Kindes.
Zwischen vier und sechs Monaten kann das Kind Strukturen erkennen. Es horcht bei seinem Namen auf, wenn es die Tonfolge, aus der er besteht, oft gehört hat. Bei dieser Leistung spielen Erkennen und Behalten, also das Gedächtnis, eine wichtige Rolle. Das wird möglich, weil jetzt der Hippocampus im Gehirn heranreift.
Zwischen sieben und neun Monaten werden die wesentlichen Nervenverbindungen im Gehirn verstärkt, die unwesentlichen abgebaut. So lässt sich erstmals vorhersagen, was im Leben als Nächstes eintritt. Nachdem das Kind schon Töne und Silben gelernt hat, beginnt es jetzt mit einer intuitiven Vorstufe der Grammatik.
Auch für den Wiener Sprachwissenschafter Martin Reisigl ist der Erwerb dieser körpersprachlichen Modi via App nicht möglich: „Außerdem wird er in Mitleidenschaft gezogen, wenn Eltern lieber auf ihr Smartphone schauen, als mit ihrem Kind zu kommunizieren.“ Starrt die Bezugsperson ausdruckslos auf den Bildschirm und lässt ihre Mimik einfrieren, lernen Babys, dass dieses sozial gestörte Verhalten normal ist: „Angesichts dessen verwundert es nicht, wenn Kinder verhaltensauffällig werden, sich in ein virtuelles Ersatzleben flüchten, statt sich mit Mitmenschen aktiv und anteilnehmend auszutauschen, wenn sie vorzeitig kurzsichtig werden und wegen des Bewegungsmangels an Übergewicht leiden.“
Von der Handystrahlung, die sich auf die neuronale Entwicklung auswirken kann, und sinkendem kreativem Potenzial ganz zu schweigen.
Geht es nach Sprachforscher Reisigl, sollten Volksschulkinder Handys folglich nicht nutzen: „Wenn, dann zeitlich sehr eingeschränkt – vielleicht 15 Minuten täglich und nur für sinnvolle Aktivitäten.“ Selbst Erwachsene können seiner Meinung nach gut ohne die digitalen Begleiter leben: „Dabei vermissen sie nichts Lebenswichtiges. Versprochen.“