Tichanowskaja ruft Landsleute zu friedlichen Protesten auf

Die weissrussische Oppositionskandidatin Swetlana Tichanowskaja hat ihre Landsleute am Freitag zu landesweiten friedlichen Demonstrationen gegen das Ergebnis der umstrittenen Präsidentenwahl aufgerufen. Sie fordere die Bürgermeister auf, am Wochenende Protestveranstaltungen in allen Städten des Landes zu organisieren, sagte Tichanowskaja in einer Videoansprache aus ihrem litauischen Exil.

Nach der Freilassung vieler Gefangener in Weißrussland in der Nacht auf Freitag gingen in dem Land unterdessen die Proteste gegen Gewalt und Willkür unter Präsident Alexander Lukaschenko weiter. Hunderte Ärzte und Frauen bildeten Freitag früh in der Hauptstadt Minsk Menschenketten, um gegen das brutale Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen friedliche Kundgebungen zu demonstrieren.

Die Proteste richten sich gegen den 65-jährigen Lukaschenko. Der Staatschef hatte sich nach 26 Jahren an der Macht bei der Wahl am Sonntag mit rund 80 Prozent der Stimmen zum sechsten Mal in Folge zum Sieger ausrufen lassen. Am Nachmittag wollen die EU-Außenminister bei einer Videokonferenz über die Lage in der Ex-Sowjetrepublik beraten.

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach sich im Vorfeld für Strafmaßnahmen gegen Verantwortliche aus. „Wir brauchen zusätzliche Sanktionen gegen diejenigen, die in Belarus demokratische Werte missachtet oder gegen Menschenrechte verstoßen haben“, forderte sie am Freitag.

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) schloss am Donnerstag Sanktionen nicht aus. Schallenberg stellte in der „ZiB1“ des ORF vier Forderungen auf: ein Ende der Gewalt sowie die Freilassung „willkürlich festgenommener Demonstranten und Journalisten“. Außerdem forderte er, dass die „Internetblockade sofort aufhört“ und dass ein umfassender innerstaatlicher Dialog stattfinden müsse.

Die österreichischen Grünen fordern Sanktionen der EU gegen Lukaschenko, sollte dieser Dialogangebote von Seiten der EU ablehnen und die Polizeigewalt gegen Demonstranten weiter ausarten. In diesem Sinne äußerten sich Monika Vana, Delegationsleiterin der österreichischen Grünen im Europaparlament, und Ewa Ernst-Dziedzic, Menschenrechts- und außenpolitische Sprecherin des Grünen Nationalratsklubs.

Die Bundesvorsitzende der Jungen Generation in der SPÖ, Claudia O‘Brien und der JG-Wien-Europasprecher Alexander Ackerl erklärten, die Bilder von Polizeigewalt gegen unbewaffnete Zivilisten seien entsetzlich und dürften nicht folgenlos bleiben. Die EU-Außenminister seien gefordert, klare Worte zu finden und gezielte diplomatische und finanzielle Sanktionen gegen die Führung in Minsk zu vereinbaren.

Weißrussland ist nach den Worten von Außenminister Wladimir Makei zu „konstruktiven und objektiven“ Gesprächen mit dem Ausland bereit. Nach einem Telefonat mit seinem Schweizer Kollegen Ignazio Cassis erklärte das Minsker Außenministerium am Freitag, Makei habe dabei die „Bereitschaft der belarussischen Seite“ zum Dialog über „alle mit den Entwicklungen in Belarus zusammenhängenden Themen“ geäußert.

Ein großer Teil der Bevölkerung hält die 37 Jahre alte Lukaschenko-Gegnerin Swetlana Tichanowskaja für die eigentliche Gewinnerin der Abstimmung. Sie ist aus Angst um ihre Sicherheit und die ihrer Kinder in das benachbarte EU-Land Litauen geflüchtet. In Russland, das wirtschaftlich eng mit Weissrussland verbunden ist, wurden erstmals Rufe nach einer Vermittlerrolle Moskaus laut.

Der russisch-belarussischer Handelsrat forderte in einem offenen Brief ein Ende des „sinnlosen Blutvergießens und der Gewalt gegen friedliche Bürger“. Es müsse ein Komitee zur nationalen Rettung aus Intelligenz und Wirtschaft gebildet werden für einen Ausweg aus der politischen Krise, hieß es. Russland gilt als das Land mit dem größten Einfluss in der Ex-Sowjetrepublik. Allerdings unterstützt auch die EU mit ihrem Programm der östlichen Partnerschaft die Entwicklung des zwischen Polen und Russland gelegenen Staates.

Arbeiter in Staatsbetrieben traten in der Früh erneut in den Streik gegen den Machtapparat. Der Druck auf Lukaschenko ist damit nach Meinung von Beobachtern weiter gewachsen. Der Staatschef wollte sich noch am Freitag in einer Rede an die Nation zur Lage äußern, wie eine Sprecherin der Präsidialverwaltung sagte. Es mehren sich Stimmen von Experten, die meinen, dass Lukaschenkos Tage im Amt gezählt sein könnten.

In der Nacht auf Freitag hatten die Behörden einen Teil der rund 7.000 im Zuge der Proteste festgenommenen Bürger wieder auf freien Fuß gesetzt. Tausende wurden aber weiter in den Gefängnissen festgehalten. Nach ihrer Freilassung berichteten viele Menschen von schwersten Misshandlungen. In Videos schilderten Frauen und Männer, dass sie kaum ernährt und in engsten Zellen stehend zusammengepfercht worden seien. Viele Bürger zeigten - nur in Unterwäsche bekleidet - ihre mit Platzwunden und großen blauen Flecken von Schlägen übersäten Körper.

Mehrere Entlassene mussten wegen der Schwere ihrer Verletzungen sofort ins Krankenhaus gebracht werden, wie Medien in Minsk berichteten. Innenminister Juri Karajew entschuldigte sich dafür, dass bei den Protesten gegen Fälschung der Wahlergebnisse vom Sonntag auch viele Unbeteiligte festgenommen worden seien. So etwas passiere aber, meinte er. Ein 25-Jähriger war unter ungeklärten Umständen nach seiner Festnahme am Sonntag gestorben.

Frauen schilderten nach der Freilassung aus dem Gefängnis auf der Okrestin-Straße in Minsk unter Tränen, dass sie geschlagen worden seien. In Zellen mit vier Betten seien 35 Frauen gewesen, sagte eine Freigelassene dem Portal tut.by. „Sie haben mit schrecklicher Brutalität zugeschlagen“, sagte sie. „Überall war viel Blut.“

Es war das erste Mal seit Tagen, dass der Machtapparat unter Lukaschenko einlenkte. Tausende Menschen hatten auch am Donnerstag bei den bisher breitesten Protesten den Rücktritt des Präsidenten gefordert. „Hau ab!“, „Freiheit!“ und „Es lebe Belarus!“, riefen viele Demonstranten. Zuletzt hatte Lukaschenko auch mit dem Einsatz der Armee gedroht, um sich eine sechste Amtszeit zu sichern. Die Proteste hatte er als vom Ausland gesteuert kritisiert und die Demonstranten als Arbeitslose mit krimineller Vergangenheit beschimpft.

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