US-Wahl 2020

Der personifizierte Kompromiss: Joe Biden als Gegenentwurf zu Trump

Joe Biden im Kreis seiner jubelnden Familie. Unmittelbar zuvor hatte der virtuelle Parteitag offiziell seine Nominierung beschlossen.
© AFP

Joe Biden gilt selbst unter Demokraten als Mann der Vergangenheit. Doch in einem Jahr, in dem es vor allem darum geht, Donald Trump zu besiegen, verfügt ausgerechnet er über entscheidende Vorzüge.

Von Floo Weißmann

Washington – Die US-Demokraten haben in der Nacht auf Mittwoch den früheren Vizepräsidenten Joe Biden offiziell als ihren Präsidentschaftskandidaten nominiert. „Es bedeutet die Welt für mich und meine Familie“, strahlte Biden in die Kamera, die ihn mit dem virtuellen Parteitag verband. Heute Abend (Ortszeit) soll er die Nominierung formal annehmen und seine Antrittsrede als Kandidat halten.

Das Format einer Videozuspielung kommt ihm entgegen. Denn der 77-Jährige ist kein charismatischer Redner, er löst selbst in den eigenen Reihen wenig Begeisterung aus. Zweimal ist er im Vorwahlkampf klanglos untergegangen, 1987 und 2008, und unter gewöhnlichen Umständen hätte er es wohl auch im dritten Anlauf kaum geschafft.

Die Liste seiner Makel ist lang. Biden, der als Kind gestottert hat, war schon immer berüchtigt für verbale Ausrutscher. Neuerdings bringt er Zahlen und Personen durcheinander. Wann immer er öffentlich ohne Manuskript auftritt, wird es heikel.

Inhaltlich und stilistisch steht der Kandidat kaum für die Gegenwart der Demokraten, geschweige denn für die Zukunft einer Partei, die in den vergangenen Jahren nach links gerückt ist. Biden arbeitet seit Anfang der siebziger Jahre als Berufspolitiker. Er hat vieles gesagt und paktiert, was heute gesellschaftlich und politisch überholt erscheint. Er gilt zudem als Schulterklopfer alter Schule. Und mehrere Frauen berichteten von ungebetenen Berührungen.

Doch die heurige Wahl ist eine ungewöhnliche – auch wegen der Pandemie, aber vor allem, weil es gegen den umstrittenen Amtsinhaber Donald Trump geht. In dieser historischen Sondersituation verfügt ausgerechnet Biden über entscheidende Vorzüge. Sie machten aus ihm den personifizierten Kompromiss all jener, die Trump unbedingt loswerden wollen – vom linken Parteiflügel der Demokraten über Wechselwähler in den Swing States bis zu moderaten Republikanern.

Bidens Stärken bilden einen Gegenentwurf zu Trump. Dazu gehört seine Fähigkeit, hinter den Kulissen Koalitionen zu schmieden – gerade auch mit Andersdenkenden. In Jahrzehnten im Senat hat er viele parteiübergreifende Lösungen verhandelt. Als heuer sein linksorientierter Vorwahl-Rivale Bernie Sanders aufgab, holte er dessen Leute in gemeinsame Arbeitsgruppen. Biden doziert nicht, wo es langgeht, sondern er bindet Menschen ein und stiftet Lösungen, über die zwar wenige jubeln, mit denen aber viele leben können. Trump hingegen lebt politisch von Spaltung und Ausgrenzung.

Zu Bidens Stärken zählt zweitens sein Einfühlungsvermögen. Er wirkt authentisch, wenn er über die Sorgen und das Leid von Menschen spricht – ein Kontrast zu Trumps Obsession, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen. Als Hintergrund gelten Schicksalsschläge. Als Biden 1972 gerade erstmals in den Senat gewählt worden war, starben seine erste Frau und seine Tochter bei einem Autounfall. Die beiden kleinen Söhne überlebten schwer verletzt. Biden leistete den Amtseid an ihrem Krankenbett. (Vier Jahre später heiratete er seine zweite Frau Jill, die nun First Lady werden könnte.) 2015 erlag Bidens älterer Sohn Beau im Alter von 46 Jahren einem Krebsleiden. Der Vater schrieb über seine Trauer das Buch „Promise Me, Dad“ (Versprich es mir, Papa).

Doch seine Integrationskraft und sein Einfühlungsvermögen allein hätten Biden wohl nicht zum Kandidaten gemacht. Dazu kamen auch taktische Überlegungen.

Im Vorwahlkampf warb Biden für sich vor allem mit dem Argument der „Wählbarkeit“. Dahinter versteckt sich die Botschaft: Ein alter weißer Mann und pragmatischer Mitte-Politiker kann von den Trumpisten kaum zum Bürgerschreck stilisiert werden. Er liefert Wechselwählern eine akzeptable Alternative.

Zudem verfügt er über eine politische Hausmacht unter Afroamerikanern. Kein anderer weißer Kandidat kann diese für Demokraten zentrale Wählergruppe so stark mobilisieren wie Barack Obamas einstiger Vizepräsident.

Nicht zuletzt: Biden kann womöglich weiße Arbeiter im Mittelwesten ansprechen, die vor vier Jahren zu Trump übergelaufen sind. In dieser Gruppe könnte es sich als Vorteil erweisen, dass Biden eben kein liberaler Intellektueller ist und kein Eliteuni-Absolvent wie viele andere Wortführer der Demokraten, sondern ein kumpelhafter, volksnaher Typ. Und er stammt nicht aus einer liberalen Küstenmetropole, sondern aus der Kleinstadt Scranton in Pennsylvania, einem früheren Kohlerevier.

Laut Umfragen haben viele Demokraten, die ideologisch oder vom Typ her andere Bewerber bevorzugten, trotzdem für Biden gestimmt – weil sie ihn für jenen Kandidaten halten, der am ehesten den Amtsinhaber besiegen kann. Und darum geht es heuer vor allem. Nun betet die bunt gemischte Anti-Trump-Koalition, dass ihr Kompromisskandidat, der politische Dinosaurier Joe Biden, es bloß nicht verbockt.