Kämpfe um Berg-Karabach weiten sich aus
Die seit drei Tagen tobenden Gefechte zwischen Armenien und Aserbaidschan weiten sich offenbar aus. Beide Seiten warfen sich am Dienstag gegenseitig vor, auch Gebiete deutlich jenseits der umkämpften Region Berg-Karabach unter Beschuss zu nehmen. Armenien meldete den Tod eines Zivilisten in dem Ort Vardenis Dutzende Kilometer entfernt von der eigentlichen Konfliktzone. Aserbaidschan teilte wiederum mit, Armenien habe von Vardenis aus die Region Dashkasan beschossen.
Es gebe breit angelegte Angriffe des aserbaidschanischen Militärs mit schweren Artillerie-Systemen, sagte eine Sprecherin des armenischen Verteidigungsministeriums. Das Ausmaß der Kampfhandlungen erreiche eine neue Stufe, so sei auch das armenische Militär gezwungen, Waffensysteme mit größerer Schlagkraft einzusetzen.
Bei dem getöteten Zivilisten in Vardenis handelte es sich nach Angaben der armenischen Regierung um das erste Opfer auf armenischen Boden, seit die Kämpfe am Sonntag wieder ausgebrochen waren. In der Region Berg-Karabach seien indes vier Zivilisten bei Angriffen getöteten worden seien. Die Gesamtzahl der Toten seit Sonntag stieg am Dienstag auf 114 in Berg-Karabach, darunter Dutzende Soldaten.
Aserbaidschan nannte zunächst nur die Zahl der getöteten Zivilisten, die auf inzwischen zehn gestiegen sei. Es gab zudem auf beiden Seiten viele Schwerverletzte, wie auf Fotos aus Krankenhäusern zu sehen war.
Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev bekräftigte die Absicht, das Gebiet Berg-Karabach zurückzuerobern und die territoriale Unversehrtheit seines Landes wiederherzustellen. Er warf der internationalen Gemeinschaft „zuviel Geduld“ mit Armenien vor. Seit 30 Jahren reagiere Armenien nicht auf Resolutionen der Vereinten Nationen, sich aus dem besetzten Gebiet Aserbaidschans zurückzuziehen, sagte er in Baku.
„Wenn die internationale Gemeinschaft den verrückten Diktator Armeniens nicht stoppen kann, dann tut dies Aserbaidschan“, sagte Aliyev. Unklar war, wen genau er mit Diktator meinte. Im Gegensatz zu der mit harter Hand geführten Ex-Sowjetrepublik Aserbaidschan gilt Armenien als Land mit einer vergleichsweise lebendigen politischen Kultur.
Die von Armenien kontrollierte Region Berg-Karabach gehört völkerrechtlich zum islamisch geprägten Aserbaidschan. In einem Krieg nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 90er Jahren verlor Aserbaidschan die Kontrolle über das Gebiet. Es wird heute von christlichen Karabach-Armeniern bewohnt. Armenien setzt auf Russland als Schutzmacht, die dort Tausende Soldaten sowie viele Waffen stationiert hat. Das öl- und gasreiche sowie militärisch hochgerüstete Aserbaidschan hat die Türkei als Verbündeten.
Zwar schlossen das mehrheitlich christliche Armenien und das mehrheitlich muslimische Aserbaidschan 1994 einen Waffenstillstand. Dennoch melden beide Seiten regelmäßig Angriffe rund um Bergkarabach mit seinen etwa 150.000 Einwohnern und entlang der gemeinsamen Grenze. Die jetzt wieder aufgeflammten Gefechte sind die schwersten seit 2016. Die Kämpfe schüren Sorgen um die Stabilität des Südkaukasus, wo wichtige Gas- und Ölpipelines entlanglaufen.
Moskau forderte die Türkei auf, ihren Verbündeten Aserbaidschan zu Verhandlungen zu bewegen. Bisherige Unterstützungserklärungen von türkischer Seite für Aserbaidschan hätten nur Öl ins Feuer gegossen. Ankara müsse alles tun, um die Konfliktparteien zu einem Waffenstillzustand zu bringen und eine friedliche Lösung zu finden, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow in Moskau.
UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, zeigte sich „sehr beunruhigt“ über die Geschehnisse in Berg-Karabach. Sie rief alle Konfliktbeteiligten auf, das humanitäre Völkerrecht einzuhalten, das den Schutz der Zivilbevölkerung vorschreibt.
Am Dienstagabend beschäftigt sich der UNO-Sicherheitsrat mit dem Berg-Karabach-Konflikt, wie die Nachrichtenagentur AFP unter Berufung auf Diplomatenkreise berichtete. Das Treffen findet demnach hinter verschlossenen Türen statt.