100 Jahre Verfassung: Van der Bellen mahnt zu Umsicht

Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat am Donnerstag beim 100 Jahre Verfassungs-Festakt des Parlaments „Augenmaß und Umsicht“ bei den wegen der Corona-Pandemie nötigen Einschränkungen von Grundrechten gemahnt. Verfassungsministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) versicherte, dass gewählte Politiker „speziell in Zeiten der Krise“ nach bestem Wissen und Gewissen im Auftrag und Interesse des Volkes handeln, dem sie laut der Verfassung verpflichtet seien.

Die „dramatische“ Einschränkung verfassungsrechtlicher Grund- und Freiheitsrechte wegen der Pandemie „war und ist eine Zumutung. Eine notwendige Zumutung, leider“, stellte Van der Bellen fest. Und auch in nächster Zukunft werde man, „so fürchte ich, noch heikle Entscheidungen treffen müssen“ auf Beschränkung von Freiheiten zum Schutz vor dem Corona-Virus.

Dabei gelte es abzuwägen, „wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um, wie jetzt im Fall von COVID, unsere Gesundheit zu schützen“ - und was noch zumutbar ist, auch im Blick auf die Wirtschaft. In dieser Abwägung zwischen den Grundrechten gelte es „nie das richtige Außenmaß zu verlieren. Weder in die eine, noch in die andere Richtung“. Darauf werde er „sorgsam und penibel achten“, versicherte der Bundespräsident - und begrüßte den „mittlerweile“ breiten politischen Konsens, dass Einschränkungen nur solange als unbedingt notwendig gelten dürfen.

Das „richtige Augenmaß“ gebiete auch der Respekt vor der Verfassung. Denn niemand könne bestreiten, dass „unsere Verfassung ihre Aufgabe als Basis des staatlichen Geschehens und als Wahrerin der Grundrechte in den hundert Jahren ihres Bestehens hervorragend erfüllt hat“.

Das meine er mit „Eleganz der Verfassung“, erinnerte Van der Bellen an sein Lob der Verfassung in der Ibiza-Krise im Vorjahr - dass sie „die Lösung der Regierungskrise ohne interpretatorische Kunststücke, allein aufgrund des klaren Wortlautes ermöglicht“. Die Verfassung habe sich im Mai/Juni 2019 als „hervorragender Wegweiser durch eine in der Zweiten Republik noch nie dagewesene Situationen erwiesen“.

Edtstadler „versicherte“ in ihrer Rede: Die Verfassung stelle sicher, dass die Politik dem Willen der Bürger folgt - auch wenn Entscheidungen und Kommunikation in Krisenzeiten „noch schwieriger“ sei. Denn laut Artikel 1 B-VG gehe das Recht vom Volk aus „und die Politik muss dem Recht folgen“.

Edtstadler sprach auch eine aktuelle Gefahr für die Demokratie an - nämlich die „Kehrseiten der Digitalisierung“ wie Desinformation oder Hass im Netz. Es gefährde die Demokratie, „wenn die Menschen die Welt nur noch in begrenzten Filterblasen wahrnehmen und die Meinung nur in der eigenen Echokammer reflektieren“. Das Recht auf Meinungsäußerungsfreiheit samt Kritik an der Politik bestehe „zweifellos“. Aber das begründe nicht „das Recht auf eigene Fakten“. „Es ist unsere gemeinsame Verantwortung, Anstrengungen für Faktentreue und Objektivität im neuen Medienpluralismus zu unternehmen“, meinte Edtstadler, „es liegt an uns, unsere Verfassung vor Missbrauch dahin gehend zu schützen“.

Zahlreiche Politiker und Politikerinnen sowie Organisationen würdigten am Donnerstag das Bundes-Verfassungsgesetz - und deponierten in Aussendungen ihre Forderungen zur Weiterentwicklung. Die Opposition verband ihre Würdigung der Verfassung mit Kritik an den von der Regierung ergriffenen Maßnahmen gegen die Covid-Verbreitung: Die Corona-Krise dürfe „kein Deckmantel für antidemokratische Einschnitte und einen autoritären Umgang mit den BürgerInnen sein“, sagte etwa SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner in Richtung Regierung - und unterstrich die wichtige Rolle nicht nur des Verfassungsgerichtshofes, sondern auch der Opposition, ausgestattet „mit einer möglichst umfassenden Kontrollfunktion“.

Für NEOS-Chefin Beate Meinl-Reisinger haben die Corona-Maßnahmen die Notwendigkeit eines in der Verfassung verankerten Grundrechtskatalog gezeigt. Das würde „zu mehr Wissen und damit mehr Sensibilität in der Bevölkerung bei Grundrechtseingriffen sorgen“. Auch eine einheitliche Verfassungsurkunde hält sie für geboten. Außerdem drängte Meinl-Reisinger auf den „Paradigmenwechsel“ vom Amtsgeheimnis zur Informationsfreiheit.

Das letzte Relikt aus der Kaiserzeit - also das Amtsgeheimnis - durch ein modernes Informationsfreiheitsgesetz zu ersetzen, sieht die grüne Verfassungssprecherin Agnes Sirkka Prammer als „vordringlichste Aufgabe“. Als weitere gebotene Änderungen erachtet auch sie einen Grundrechtskatalog und ein „einheitliches Verfassungswerk“.

Amnesty International forderte die Erweiterung der Grundrechte um wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte. Die aktuellen menschenrechtlichen Herausforderungen wie Corona oder Klimakrise würden zeigen, wie notwendig die Absicherung der sozialen Rechte für den Zusammenhalt der Gesellschaft sei.