EU und Großbritannien reden wieder miteinander über Brexit
Großbritannien und die EU haben am Montag die Brexit-Verhandlungen trotz zuletzt gegenseitiger Vorwürfe fortgesetzt. EU-Kommissionsvize Maros Sefcovic traf in London den britischen Kabinettsminister Michael Gove. Am Nachmittag sollten zudem EU-Chefunterhändler Michel Barnier und sein britisches Pendant David Frost telefonieren. Beide Seiten suchen nach Möglichkeiten, doch noch ein Handelsabkommen zu erreichen und die künftigen Beziehungen Großbritanniens zur EU zu klären.
Ende des Jahres läuft die Übergangszeit aus, in der das Vereinigte Königreich noch EU-Regeln anwendet. Danach droht Chaos. Premierminister Boris Johnson hatte sein Land am Freitag auf einen harten Brexit ohne Handelsabkommen eingeschworen, sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht noch grundlegend ändern. Das wäre das Horror-Szenario für die Wirtschaft. Neue Zölle auf viele Produkte wären dann voraussichtlich auf der Tagesordnung. Ein Johnson-Sprecher hatte sogar gesagt, es gebe keine Handelsgespräche mehr. Die EU hatte dies als reine Taktik gewertet.
Sefcovic bekräftigte zu Wochenbeginn, die EU wolle weiterhin eine Einigung, „aber nicht um jeden Preis“. Es müsse ausgewogen sein. „Die Europäische Union ist bereit, bis zur letzten Minute an einer guten Einigung für beide Seiten zu arbeiten.“ Ein Barnier-Sprecher sagte, es werde am Montag vor allem darum gehen, wie in den nächsten Wochen verhandelt werde. Als besonders strittige Themen gelten Regeln für einen fairen Wettbewerb, Streitschlichtungsverfahren und Fischerei-Fangquoten in britischen Gewässern. Am Devisenmarkt überwog am Montag der Optimismus von Investoren. Das Pfund Sterling kletterte wieder über die psychologisch wichtige Marke von 1,30 Dollar.
Die britische Regierung forderte allerdings vorsorglich die Unternehmer des Landes auf, Vorbereitungen für einen harten Brexit zu treffen. Rund 200.000 Händler werden einen Brief erhalten, in dem neue Zoll- und Steuervorschriften dargelegt werden, wie die Regierung in London mitteilte. „Täuschen Sie sich nicht, in nur 75 Tagen gibt es Änderungen und die Uhr für die Unternehmen tickt“, sagte Gove. Jetzt müssten alle zusammenarbeiten, damit Großbritannien die neuen Chancen nutzen könne, die sich „aus einer unabhängigen Handelsnation mit Kontrolle über ihre eigenen Grenzen, Hoheitsgewässer und Gesetze“ ergeben würden.
Die Liberalen im Europaparlament erwarten doch noch ein Handelsabkommen. Am Ende wird es eine Vereinbarung geben“, sagte der Chef der liberalen Renew-Fraktion, Dacian Ciolos, am Montag. Zur Ansage Johnsons sagte Ciolos: „Wenn es eine Charaktereigenschaft Johnsons gibt, dann ist es, dass er sehr unberechenbar ist. Ich weiß nicht, ob er wirklich weiß, was er will.“ Doch liege ein Handelsabkommen mit der EU im wirtschaftlichen Interesse Großbritanniens. Ungeachtet der „politischen Spielchen von Boris Johnson“, werde ein „minimales Abkommen“ gelingen, sagte Ciolos.
Mehrere Erzbischöfe der Anglikanischen Kirche übten unterdessen Kritik an der britischen Regierung und warfen ihr einen Rechtsbruch vor. Das Binnenmarktgesetz, mit dem Teile des bereits gültigen Austrittsabkommens zwischen London und der EU wieder ausgehebelt werden können, sei ein „verheerender Präzedenzfall“. Das Gesetz habe „enorme moralische sowie politische und rechtliche Konsequenzen“, schrieben die Geistlichen um den Erzbischof von Canterbury, Justin Welby, in einem Offenen Brief, den die „Financial Times“ am Montag veröffentlicht. Es ebne den Weg für einen Verstoß gegen das Völkerrecht.
Das Gesetz könnte Sonderregeln für Nordirland im Brexit-Abkommen zunichte machen, die eine harte Grenze zum EU-Staat Irland und neue Feindseligkeiten dort verhindern sollen. Großbritannien spricht von einem „Sicherheitsnetz“, die Europäische Union hingegen von einem Vertragsbruch. Das Binnenmarktgesetz hatte im britischen Unterhaus bereits eine erste Hürde genommen. Am Montag sollte es im Oberhaus debattiert werden, in dem viele Kritiker des EU-Austritts sitzen.