Dirigent Andreas Stoehr hat Gedichte vertont

Die einen lassen im Lockdown den Kopf hängen und hadern mit dem Schicksal. Die anderen ziehen sich am eigenen Schopf aus dem verordneten Stillstand und stöbern nach bisher liegen gebliebenen Projekten, die sie nun endlich angehen könnten. Andreas Stoehr, 1962 geborener Wiener Dirigent, Pianist und Komponist, zählt eindeutig zu Letzteren. Am Freitag (27. November) erscheint sein Album „Emil Sinclairs Songbook“ (Newplay Entertainment/Vertrieb MG-Sounds).

Weder Andreas Stoehr noch Emil Sinclair sind Singer-Songwriter. Als Komponist hat Stoehr eine Liebe zur Vielfalt. „Polystilistik“, nennt er das. Als künstlerisch interessierter Mensch hat er seit der Schulzeit eine Liebe zur Literatur und dabei besonders zur Lyrik. Emil Sinclair ist Protagonist von Hermann Hesses 1919 veröffentlichter Erzählung „Demian“ und „eine symbolhafte Figur, die meine Jugend geprägt hat“, wie Stoehr im Gespräch mit der APA erläutert. Die Abrechnung mit der Generation der Väter, die Überwindung von Vereinsamung und Herzlosigkeit, das Finden einer eigenen inneren Stimme, auf die man hören könne - all‘ das habe auch sein eigenes Heranwachsen geprägt.

Das „Songbook“ sind Vertonungen von Gedichten, an denen Stoehr über die Jahre immer wieder gearbeitet hat, ohne eine konkrete Absicht zu verfolgen. Im ersten Lockdown, als Stoehrs Verpflichtungen als Dirigent innerhalb weniger Tage abgesagt wurden, hat er die alten Skizzen wieder hervorgekramt. „Ich habe mich auf eine längere Periode des Stillstands eingestellt und dachte mir: Wenn der Dirigent mal Pause machen muss, nutze ich die Zeit, um den produzierenden Künstler in mir wieder mehr aufleben zu lassen. Ich wollte der Krise mit etwas Kreativem, etwas Konstruktivem begegnen.“

Also hat er die in den vergangenen Jahren nebenher entstandene Kompositionen gesichtet, auf ihre Tauglichkeit überprüft und geordnet. Es sind Vertonungen von Gedichten von Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Yvan Goll, Hermann Hesse und Rainer Maria Rilke, die ihn immer beschäftigt haben und um die Themen Liebe, Eros und Tod kreisen. Dabei ist ihm Vielfalt wichtiger als Einheitlichkeit. „Jedes Gedicht verlangt einen eigenen Tonfall“, und dieser reicht vom Jazz bis zur 12-Ton-Musik. Rilkes berühmter „Herbsttag“ habe etwa sehr spät in ihm zu klingen angefangen und ihn zwei Jahre beschäftigt, für Celans „Todesfuge“ habe ihn dagegen schon immer angesprochen. Sie hat er nicht für eine Gesangs-, sondern für eine Sprechstimme (auf der CD: Ulrich Reinthaler) komponiert, begleitet von einem „Geisterchor“.

Neben Reinthaler wirkten die Sänger Andre Bauer, Sofie Denner, Cornelia Horak und Franz Gürtelschmied mit, sowie zahlreiche Musiker aus seinem musikalisch-künstlerischen Freundeskreis, über den er rasch ins Schwärmen kommt. Dennoch sei die Aufnahme des von Niki Neuspiel produzierten Albums ein ziemliches Stück Arbeit gewesen. Das Resultat zeigt jedoch, dass es sich gelohnt hat. Jetzt muss sich nur noch eine Möglichkeit eröffnen, „Emil Sinclairs Songbook“ auch live präsentieren zu können. „Das wünsche ich mir sehr und arbeite intensiv daran. Leider ist die Zeit so merkwürdig, dass man kaum etwas planen kann“, sagt Stoehr. Und wirkt dabei, als schiene ihm das nochmalige Stöbern im eigenen Archiv jedenfalls die deutlich weniger attraktive Alternative als die lang ersehnte Rückkehr aufs Podium.

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