Interview

Klaus Maria Brandauer über Flüchtlinge: „Das Problem wird verschleppt“

„Ich bin nach wie vor entsetzt und ich schäme mich. Wir sehen hier eine Katastrophe mit Ansage“, konstatiert Klaus Maria Brandauer.
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Schauspieler Klaus Maria Brandauer ruft die Regierenden auf, Flüchtlinge aus Lesbos in Österreich zu beherbergen. Wähler der ÖVP seien „da wahrscheinlich viel weiter als das Establishment der Partei“.

Seit Tagen werden via TV die verheerenden Zustände in Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln Lesbos und Samos dokumentiert. Was empfinden Sie angesichts dieser Bilder?

Klaus Maria Brandauer: Ich bin nach wie vor entsetzt. Und ich schäme mich. Wir sehen hier eine Katastrophe mit Ansage. Niemand kann sagen, dass diese Situation überraschend entstanden ist. Das haben wir sehenden Auges mit angerichtet. Nein, wir haben weggeschaut, aus Bequemlichkeit!

Welche Erwartungen haben Sie dahingehend an die österreichische Regierung – und an die Europäische Union?

Brandauer: Die Zustände in den Flüchtlingslagern sind eine Schande für Europa. Dieses kollektive Wegsehen beschädigt das Europa, für das so viele seit Jahrzehnten gekämpft haben. Und das gilt genauso für Österreich. Es geht hier um das unverhandelbare Recht auf Leben. Und Nichthandeln ist schlicht unterlassene Hilfeleistung.

Die Kanzlerpartei ÖVP will nach wie vor keine Flüchtlinge aus Lesbos hierzulande aufnehmen. Wie bewerten Sie die Rolle der ÖVP in dieser Frage?

Brandauer: Die ÖVP muss sich fragen lassen, ob sie ihr Nichthandeln noch mit dem christlichen Menschenbild in Vereinbarung bringen kann, auf welches sie in vielen anderen Fragen so gern abhebt. Fragen der Menschlichkeit und der Unantastbarkeit des Lebens rühren an den Kern einer Partei mit einer solchen konservativen Tradition. Die Wählerinnen und Wähler der ÖVP sind da wahrscheinlich viel weiter als das Establishment der Partei, wie in so vielen anderen Fragen auch.

Wie sehen Sie die Rolle der Grünen in dieser Angelegenheit? Auch Wähler und Funktionäre von ihnen haben der Öko-Partei vorgeworfen, sich der Volkspartei unterzuordnen – mit dem Argument, andernfalls würde es eine Regierungskrise geben, die Koalition daran gar zerbrechen.

Brandauer: Wir sind in keiner Situation, wo man über brechende Koalitionen spekulieren sollte. Darum geht es jetzt überhaupt nicht, das lähmt nur noch weiter. Vielmehr ist es nötig, jetzt zügig und unbürokratisch Hilfe zu leisten – vor Ort und hier – und alle Hindernisse dafür aus dem Weg zu räumen.

Nun hat Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer im Interview mit der TT gesagt: „Wir können und werden bei diesem Thema nicht schweigen.“ Viele Bürgermeister, auch von der ÖVP, würden Flüchtlinge aus den Lagern aufnehmen. „Ich denke, der Koalitionspartner wäre gut beraten, die Angebote anzunehmen.“ Und Grünen-Justizministerin Alma Zadić sagt: Es handle sich um „eine humanitäre Notlage. Meines Erachtens ist es auch unsere Pflicht, hier zu helfen und zu unterstützen.“ Meinen Sie, dass die Grünen den Kanzler umstimmen können?

Brandauer: Die Grünen müssen weiter vorangehen. Ich gehe davon aus, dass sie alles unternehmen, was geht – und sich dann auch durchsetzen werden, weil es keine Alternative gibt. Die Analyse ist vollkommen richtig, dass es sich um eine humanitäre Notlage handelt. Und daraus ergibt sich unmittelbar eine Handlungsnotwendigkeit. Es gibt eine breite Welle von Hilfsangeboten aus ganz Österreich, die offenbar von der Regierung noch nicht in genügendem Maße zur Kenntnis genommen wurden. Der Umsetzung darf sich niemand mehr in den Weg stellen.

Die Initiative „Courage – Mut zur Menschlichkeit“ von Schauspielerin Katharina Stemberger appelliert an die Regierenden, diesen Flüchtlingen zu helfen. Stemberger und der Innsbrucker Bischof Hermann Glettler sind vor Ort gewesen. „Die Situation ist bitterernst. Eigentlich müsste das Lager (Kara Tepe II, errichtet nach dem Brand in Moria) auf der Stelle evakuiert werden“, sagte Glettler gegenüber der TT. „Es fehlt an Heizstrahlern für die Zelte und an Duschen. Wollen wir warten, bis es Erfrorene gibt?“ Zum steten Verweis von Österreichs Bundesregierung auf „Hilfe vor Ort“ sagt Glettler: Diese sei „notwendig“, als „Erstversorgung, die es in jedem Katastrophenfall braucht“. Sie reiche jedoch nicht aus. „Ich kann unsere Regierung nur wiederholt ganz deutlich bitten, jetzt vor Weihnachten aus dem Lager direkt Familien mit Kindern aufzunehmen.“ Unterstützen Sie diese Initiative? Und meinen Sie auch, dass es mit der „Hilfe vor Ort“ nicht getan ist?

Brandauer: Ja, ich unterstütze diese Initiative, schon seit längerer Zeit. Das Problem ist ja kein neues, sondern wird von den Verantwortlichen schon seit vielen Monaten verschleppt. Vor Ort menschenwürdige Zustände herzustellen, ist jetzt Punkt eins. Und weil das gar nicht mehr in dem Maße möglich ist, wie es erforderlich wäre, müssen so viele Familien wie möglich dort rausgeholt werden. Übrigens nicht, weil bald Weihnachten ist, sondern weil die Zustände katastrophal und weil wir das ihnen und uns selber schuldig sind.

Von Gegnern, Flüchtlinge aufzunehmen, ist immer wieder zu hören, das erzeuge einen „Pullfaktor“. Familienangehörige und andere kämen dann nach. Diesen gehe es darum, hiesige Sozialleistungen zu lukrieren. Und: Wer dafür sei, Flüchtlinge in Österreich zu beherbergen, solle doch selbst welche in seiner Wohnung aufnehmen. Was sagen Sie zu diesen Argumenten?

Brandauer: Wir kennen das Spiel schon zu Genüge, dass immer alles weitergeschoben wird, keiner Verantwortung übernehmen will. Es gibt keine europäische Flüchtlingspolitik mehr, sondern nur noch viele nationale Alleingänge. Wir grenzen uns ab, im Großen wie im Kleinen. Das Thema Migration ist komplex, gehört permanent kritisch durchleuchtet. Und es ist übrigens für Kampagnen jeglicher Art gänzlich ungeeignet, wir haben es hier aber auf Lesbos und Samos mit einem akuten Menschenrechtsthema zu tun!

Kürzlich haben – geladen von ÖVP-Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka – ÖVP- und FPÖ-Mandatare im Parlament wegen der und gegen die Corona-Krise gebetet, von Nächstenliebe gesprochen. Wie beurteilen Sie das ob der Lage in
den griechischen Flüchtlingslagern?

Brandauer: Das ist doch ein guter Ansatzpunkt, jeder muss das am Ende mit sich selber ausmachen, wie er mit dieser Situation umgegangen ist. Ich möchte gar nicht in den Chor derer einstimmen, denen Politiker nie etwas recht machen können, sondern ich appelliere an jeden einzelnen Menschen, der ein politisches Amt hat: ,Jetzt ist der Punkt erreicht, wo du dich bewähren musst!‘

Das Interview führte 
Karin Leitner

Rotes Kreuz appelliert an die Regierungen

Heute ist der „Internationale Tag der Migranten“. Ob dessen appelliert das Rote Kreuz erneut an die Regierenden, Schutzbedürftige aus dem Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos in Österreich aufzunehmen. Eine „dauerhafte Lösung“ für die 7000 Menschen in Kara Tepe sei nötig. Die Bedingungen seien „katastrophal“, die Kälte habe die Situation im Ersatzcamp nach dem Brand in Moria weiter verschlimmert. „Die Flüchtlingssituation ist ein Armutszeugnis für ganz Europa. Kein Mensch sollte in der EU gezwungen sein, im Zelt zu leben, schon gar nicht im Winter“, befindet Rotkreuz-Präsident Gerald Schöpfer. Er fordert die türkis-grünen Koalitionäre auf, „Solidarität zu zeigen“ und Geflüchtete aus Griechenland hierzulande zu beherbergen. Drei Rotkreuz-Mitarbeiter sind vor Ort, um die Wasser- und Sanitärversorgung zu verbessern. (APA, TT)