Sorge wegen neuer Coronavirus-Variante in England

Besorgt blicken Wissenschafter und Politiker auf eine neue Variante des Coronavirus, die sich im Südosten Englands ausbreitet. Das Land stehe vor einer enormen Herausforderung, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock am Sonntag. Nach ersten Erkenntnissen der Forscher ist die entdeckte Variante um bis zu 70 Prozent ansteckender als die bisher bekannte Form. Premier Boris Johnson betonte, es gebe keine Hinweise darauf, dass Impfstoffe gegen die Mutation weniger effektiv seien.

Um das Virus einzudämmen, gilt seit Sonntag in der Hauptstadt London und weiten Teilen Südostenglands ein harter Shutdown mit Ausgangssperren, auch über die Weihnachtstage. Mehr als 16 Millionen Menschen sind betroffen. Hancock schloss nicht aus, dass die schärferen Maßnahmen „in den kommenden Monaten“ in Kraft blieben.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO rief ihre europäischen Mitgliedsstaaten angesichts der neuen Variante des Coronavirus zu einer Verschärfung ihrer Corona-Maßnahmen auf. „In Europa, wo die Übertragung hoch und weit verbreitet ist, müssen die Länder ihre Kontroll- und Vorbeugemaßnahmen verstärken“, sagte eine Sprecherin der WHO-Europa am Sonntag.

Außerhalb Großbritanniens wurden bisher elf Fälle der Virus-Mutation gemeldet, die deutlich ansteckender sein soll als das bisherige Virus - neun in Dänemark und je einer in den Niederlanden und Australien. Mehrere europäische Staaten kündigten daraufhin an, die Flugverbindungen aus Großbritannien einzuschränken. Auch Österreich plant laut dem Gesundheitsministerium ein Landeverbot für Flüge aus Großbritannien. Die britische Regierung verhängte in London und Südostengland eine Ausgangssperre.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan zeigte Verständnis für den Shutdown, bei dem auch nicht lebensnotwendige Geschäfte und Einrichtungen schließen müssen. „Es ist das Hin und Her, das zu so viel Angst, Verzweiflung, Traurigkeit und Enttäuschung führt“, sagte Khan am Sonntag der BBC. „Wenn wir unsere Meinung immer wieder ändern, macht es das Leuten wie mir wirklich schwer, die Menschen zu bitten, uns zuzuhören.“

Wegen der Ausbreitung der neuen Variante wurde für London und andere Regionen in Südostengland die höchste Corona-Stufe 4 eingeführt. Einwohner dürfen dieses Gebiet seit Sonntag nicht verlassen. Nach Bekanntgabe der schärferen Maßnahmen machten sich zahlreiche Menschen dennoch am Samstagabend spontan auf den Weg, um aus London abzureisen. Fotos und Videos zeigten volle Bahnhöfe. „Was Sie gestern gesehen haben, war eine direkte Folge der chaotischen Art und Weise, wie die Ankündigung gemacht wurde“, sagte Khan.

Er habe Verständnis, dass Menschen in letzter Sekunde, bevor die Reiseverbote greifen, zu ihren Familien reisen wollen. „Aber es ist falsch“, sagte der Bürgermeister. Und mit Blick auf Corona-Impfmittel fügte er hinzu: „Wie werden Sie sich fühlen, wenn Sie das Virus an ältere Verwandte, geliebte Menschen weitergeben, deren Leben wegen des Vakzins lang und fruchtbar sein könnte, der sich aber dadurch mit dem Virus infiziert und - Gott bewahre - stirbt?“

Der deutsche Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach warnte indessen vor Mutationen des Coronavirus. „Es ist sehr wahrscheinlich, dass Mutationen die Ansteckungsgefahr erhöhen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland am Sonntag. „Das ist ein weiterer Grund dafür, dass die zweite Welle nicht so stark werden darf. Je mehr Ansteckungen man zulässt, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass noch gefährlichere Mutationen folgen. Das ist quasi ein Teufelskreis: Mehr Ansteckungen führen zu mehr Mutationsgelegenheiten und damit zu mehr Mutationen. Diese wiederum führen zu mehr Ansteckungen. So geht es dann immer weiter.“

Die Wirksamkeit des Impfstoffes würde nach Expertenansicht vermutlich nicht entscheidend beeinträchtigt. Andreas Bergthaler von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften hält die Entwicklung nicht für „wahnsinnig alarmierend“. Dass Mutationen auftauchen, sei nicht ungewöhnlich. Derzeit wisse man nicht, ob die beobachteten Veränderungen die Eigenschaften des Erregers überhaupt entscheidend verändern.

„Ich sehe da derzeit keinen Grund für Alarm“, sagte auch Richard Neher vom Biozentrum der Universität Basel. Dass diese Variante des Virus sich schneller ausbreite, sei grundsätzlich plausibel, sagte Neher. Wenn sich das bestätige, seien deutlich schärfere Maßnahmen nötig, um die Ausbreitung des Coronavirus wie gewünscht einzudämmen. Denkbar sei aber auch, dass die derzeitige verstärkte Ausbreitung dieser Variante letztlich Zufall sei und etwa auf ein Superspreading-Event zurückgehe.