Brasilien

Von erhoffter Herdenimmunität am Amazonas keine Spur

Sauerstoffflaschen für Covid-19-Kranke sind wieder rar geworden in Manaus.
© AFP

2020 hieß es, zwei Drittel der Menschen sollten geimpft sein, um die Pandemie zu stoppen. Doch wegen der Varianten wird das nicht reichen.

Manaus – Das klingt nicht gut: Die Metropole Manaus im brasilianischen Bundesstaat Amazonas, in der die große Mehrheit der Bevölkerung schon mit dem Coronavirus infiziert gewesen sein soll, erlebt gerade einen zweiten Kollaps des Gesundheitssystems. Auslöser ist – nach Monaten relativer Ruhe – wieder Sars-CoV-2. Es fehlen Spitalsbetten und Sauer­stoff, Patienten werden in ander­e Bundesstaaten ausgeflogen.

Besonders verwunderlich ist, dass Forscher dort die theoretische Schwell­e zur Herdenimmunität überschritten glaubten: Im Jänner schätzten brasilianische Experten im Fachblatt Science den Anteil der Bewohner von Manaus, die sich bis Oktober infiziert hatten, auf mehr als 70 Prozent. Sie hatten Proben von Blutspendern auf Antikörper untersucht.

Mit Herdenimmunität ist ein Schutz durch die Gemeinschaft gemeint: Davon profitieren Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können. Ist ein ausreichender Anteil der Bevölkerung geimpft oder nach durchgemachter Erkrankung immun, breitet sich der Erreger kaum noch aus – und gelangt weniger zu anfälligen Personen.

Aber einen einheitlichen Schwellenwert gibt es nicht. „Wie viele Immun­e tatsächlich notwendig sind, damit dies funktioniert, hängt davon ab, wie ansteckend die jeweilige Erkrankung ist und wie gut die Impfung wirkt bzw. wie lange der Impfschutz anhält“, erklärt das deutsche Robert Koch-Institut (RKI). Bei Sars-CoV-2 ist bisher zudem unklar, ob Geimpft­e das Virus noch übertragen und wie lange eine Immunität anhält.

Dennoch dürfte bei vielen Menschen die Botschaft hängen geblieben sein, dass die Pandemie quasi gestoppt ist, wenn sich genug Menschen infiziert haben oder durch Impfungen immun geworden sind. Seit dem Frühjahr 2020 beziffern Experten den Anteil, der für den erhofften Effekt nötig ist, auf zwei Drittel der Bevölkerung, etwa 67 Prozent. Die Zahl fußt auf der Annahme, dass ein Infizierter im Schnitt drei Menschen anstecken würde, wenn keine Maßnahmen in Kraft sind und niemand immun ist – die Basisreproduktionszahl (Basis-R-Wert).

Was aber ist dann in Manaus passiert? Im Lancet nennen Forscher mehrere Erklärungen, die sich nicht gegenseitig ausschließen. Demnach könnten die Schätzungen der Infektionen zu hoch gewesen sein. Auch könnte die in der ersten Welle erlangte Immunität im Dezember schon wieder geschwunden sein, so die Autoren. Hinzu komm­e der Nachweis von Corona-Varianten in Manaus, die dem Immunsystem von Genesenen entgehen und erneut Infektionen verursachen – und die offenbar ansteckender sind. Die im Amazonas-Gebiet nachgewiesene Coronavirus-Variante ist laut brasilianischen Regierungsangaben dreimal ansteckender als das ursprüngliche Virus. Dies erklärte Gesundheitsminister Eduardo Pazuello am Donnerstag im Senat in Brasília. Die Impfstoffe würden bei dieser Variant­e aber auch wirksam sein. „Aber sie ist ansteckender, dreimal ansteckender.“ Jüngste Analysen deuten darauf hin, dass die Variante schon für 90 Prozent der Corona-Fälle im Bundesstaat Amazonas verantwortlich ist.

Ein ansteckenderes Virus hat auch eine höhere Basisreproduktionszahl: Die Kalkulation vom Frühjahr müsste bei einer Verbreitung von Varianten angepasst werden. Das heißt, dass Herdenimmunität nicht bereits bei 67 Prozent erreicht wäre, sondern erst bei einem höheren Anteil. Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim rechnete auf ihrem Youtube-­Channel MaiLab vor, dass die Schwelle etwa bei einem Basis-R-Wert von fünf – ein Infizierter steckt fünf Personen an – bei 80 Prozent läge.

Das sind jedoch theoretische Überlegungen. In der Praxis tragen dem Virologen Christian Drosten zufolge viele weitere Faktoren bei, wie Kontaktnetzwerke und -häufigkeit. Über Manaus sagte der Charité-Forscher, eine erneute Welle schwerer Verläufe sei in einer bereits durchinfizierten Bevölkerung nicht wirklich zu erwarten. Auch andere Experten rechnen damit, dass Patienten im Fall einer zweiten Ansteckung mildere Symptome bekämen. Drosten bezweifelt daher die Annahme, in Manaus sei 2020 bereits ein­e Herdenimmunität entstanden. Der Epidemiologe Rafael Mikolajczyk von der Uniklinik Halle betont, dass auch 30 Prozent empfängliche Bürger viel seie­n, wenn eine neue Virus­variante so viel infektiöser ist, dass die Epidemie sich erneut ausbreiten könne. Der Anteil sei mehr als groß genug, um ein Gesundheitssystem völlig zu überlasten. Der Präsident der Gesellschaft für Virologie, Ralf Bartenschlager, sagte kürzlich, er halte Herden-immunität durch konsequente Impfungen trotz der Varianten für das entscheidende Mittel, um der Pandemie entgegenzutreten. Wissenschafter betonen auch, dass es selbst in einer im Durchschnitt gut geimpften Bevölkerung immer Gruppen mit nicht so vielen Geimpften gebe. Es blieben somit Bereiche, in denen es zu Ausbrüchen kommen könne, sobald das Virus eingeschleppt wird. Dafür sind die hochansteckenden Masern seit Jahren ein Beispiel. (TT, dpa)