Vertraulichkeit ist für Höchstrichter die Ausnahme in Europa
Die türkis-grüne Koalition will am Verfassungsgerichtshof Sondervoten zulassen. In den meisten europäischen Ländern sind diese die Regel.
Wien – ÖVP und Grüne wollen in einem Zug mit der Abschaffung des Amtsgeheimnisses gleich auch eine lange Diskussion über die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofes (VfGH) beenden: Sie wollen den Mitgliedern des Höchstgerichts die Möglichkeit eröffnen, so genannte Sondervoten zu veröffentlichen, wenn sie mit der Mehrheitsentscheidung ihrer Kollegen nicht einverstanden sind. Derzeit ist dies nicht vorgesehen.
Die Idee hinter den Sondervoten ist, mehr Transparenz zu schaffen und die rechtswissenschaftliche Diskussion zu fördern. Gegner dieser Variante befürchten, dass Entscheidungen an Autorität verlieren. Außerdem könnten Richter unter Druck gesetzt oder punziert werden.
VfGH-Präsident Christoph Grabenwarter hat sich gegen eine Umstellung auf Sondervoten ausgesprochen. In anderen Ländern und vor allem im angelsächsischen Raum gehört diese Möglichkeit aber zur Tradition im Rechtssystem.
Geschichtlich gesehen stand in Kontinentaleuropa bei Gerichten das Abstimmungsgeheimnis hoch im Kurs. Das hatte handfeste Gründe, heißt es in einer Studie des EU-Parlaments zu „Abweichenden Stellungnahmen der Obersten Gerichtshöfe in den Mitgliedstaaten“: Aufgabe der Gerichte war die Äußerung des Willens des Königs, in dessen Namen sie Recht sprachen. Nachdem dieser klarerweise nur einen Willen haben konnte, mussten auch die Urteile zumindest nach außen hin einstimmig gefällt werden.
Anders in Großbritannien und den USA: Dort durften Richter traditionell ihre (abweichende) Meinung kundtun. Der Supreme Court der USA gestattet seit seiner Gründung Minderheitsvoten. Diese können abweichend von der Mehrheitsentscheidung sein, zustimmend oder auch teils ablehnend und teils zustimmend. Blickt man auf die Entscheidungssammlung des Gerichtshofs, sieht man, dass die Richter diese Möglichkeit ausgiebig nutzen. Das Sondervotum eines Richters wird direkt an die Mehrheitsentscheidung angehängt.
Wesentlich vorsichtiger Gebrauch von der Möglichkeit eines Sondervotums machen dagegen die Verfassungsrichter in Deutschland. Eingeräumt wurde ihnen dieses Instrument Anfang der 1970er-Jahre. Sie nutzen die Möglichkeit meist aber nur bei wirklich richtungsweisenden Entscheidungen.
Nicht erlaubt sind Sondervoten in Italien, Frankreich und den Beneluxländern. Die Europäischen Gerichtshöfe haben eine unterschiedliche Praxis: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht die Publikation abweichender Meinungen vor. Beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) der EU bleiben die Entscheidungen geheim. (APA, TT)