Liessmann auf Zarathustras Fährte: Die Spur führt ins Heute

Zu den Expertenstimmen, die das Coronajahr als vielstimmiger Chor begleiten, kommt mit dem neuen Buch von Konrad Paul Liessmann nun eine schillernde Figur der Philosophie: Zarathustra, spöttischer Prophet und hellsichtiger Protagonist bei Friedrich Nietzsche, wird von Österreichs bekanntestem Philosophie-Erzähler auf die Gegenwart befragt. „Alle Lust will Ewigkeit“ flaniert auf den Pfaden der ikonischen Verse des „Mitternachtslieds“ leichtfüßig durch den Kosmos Nietzsche.

„O Mensch! Gieb Acht!“ Die reichhaltige Rezeptionsgeschichte der von zwölf Glockenschlägen getrennten Verszeilen - kein Gedicht wurde öfter oder prominenter vertont - ist für Liessmann ebenso Terrain wie der Bezug zum Gesamtwerk Nietzsches und seiner oftmals radikalen, oftmals augenzwinkernden, oftmals vielbödigen Gedankenwelt. Als kundiger Fährtengeher führt der Professor, der mit seinen Erzählexpeditionen in die Geschichte der Philosophie seit Jahrzehnten Hörsäle zu überfüllen weiß, durch ein dichtes Wuchern von kulturgeschichtlichen Bezügen, die selten vor dem Heute Halt machen.

Wer also hinter Titel, Untertitel („Mitternächtliche Versuchungen“), Bild am Einband (Botticellis Venus) und dem Hinweis auf Nietzsches „Also sprach Zarathustra“ weltfremdes Wühlen in fernen Geistesepochen zum Zweck selbstverliebter bildungsbürgerlicher Nabelschau vermutet, sollte sich nicht vorschnell abschrecken lassen. Tatsächlich ist das Mäandern zwischen den Versen zu Nacht und Traum, Weh und Lust, nur scheinbar ziellos und greift zwischendurch stets mit klarem Griff nach dem Hier und Jetzt: nach Digitalisierung und Datenschutz, Gutmenschen und Selbstoptimierern, Mindfulness und Sterbehilfe - nur einige der Zutaten, die unsere „Convenience“-Gesellschaft in die Verwandtschaft der „letzten Menschen“ der Nietzsche-Prophezeiung rücken. „‘Wir haben das Glück erfunden‘ - sagen die letzten Menschen und blinzeln“. Man braucht keinen konsum- und genussfeindlichen Lockdown, um zu verstehen, in welche Abhängigkeit sie sich damit gestürzt haben.

Corona kommt mitunter auch vor, jedoch nicht als eigens zu erforschende Abweichung von der menschlichen Conditio, sondern als Brennglas, unter dem sie überdeutlich sichtbar wird. „Alle Lust will Ewigkeit“ ist weder Kommentar auf die Pandemie noch Eskapismus aus der Corona-Isolation - die zugehörige Vorlesung hielt Liessmann im Übrigen bereits 2018 -, und doch muss man dem verschmitzten Zarathustra ein dieser Tage unbedingt gefragtes Expertentum zusprechen: Mit Spott und Poesie, mit Lakonie und Mystik schärft er die Sinne für das Ernsthafte im Überzogenen, das Dauerhafte im Schnelllebigen und das Eindringliche im Dauerrauschen der Alltagsempörung.

(S E R V I C E - Konrad Paul Liessmann: „Alle Lust will Ewigkeit. Mitternächtliche Versuchungen.“ Zsolnay Verlag, 318 Seiten. 26,80 Euro. Lesung am 6. Mai im Literaturhaus Graz)

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