Meteorologie nach Tschernobyl Teil der Krisenfallvorsorge
Am 26. April 1986 ereignete sich die bisher größte nukleare Katastrophe von Tschernobyl, 35 Jahre danach ist die Meteorologie zu einem wichtigen Teil der Krisenfallvorsorge geworden. Die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) ist laut eigenen Angaben eines der weltweit zehn Regionalzentren der Weltorganisation für Meteorologie (WMO), um die Verlagerung von Schadstoffwolken zu berechnen. Ab Juni werden diese Aufgaben noch einmal erweitert.
Nach der Explosion von Reaktor 4 im russischen Kernkraftwerk zog die radioaktive Wolke zunächst Richtung Skandinavien, dann Richtung Zentraleuropa und erreichte Österreich am 29. April 1986. Besonders betroffen waren Gebiete, in denen es regnete. Vor allem in Salzburg und Oberösterreich kamen mit dem Regen signifikante Mengen von Cäsium und anderen Radionukliden in die Böden. Zur Zeit des Unfalls in Tschernobyl standen nur einfache Verfahren zur Abschätzung der Zugrichtung der radioaktiven Wolke zur Verfügung. Heute berechnen Organisationen wie die ZAMG mit komplexen Computersimulationen den Transport, die Verdünnung und den radioaktiven Zerfall von Schadstoffwolken sowie die Ablagerung der Schadstoffe am Boden durch Absinken und durch das Auswaschen mit Regen oder Schneefall.
Die Anwendungen von Ausbreitungsmodellen reichen von Zwischenfällen in Atomkraftwerken über Vulkanausbrüche bis zu kleinräumigen Unfällen und Explosionen. Der Aufbau des automatischen österreichischen Wettermessnetzes mit mittlerweile 280 Stationen war eine direkte Folge der Katastrophe von Tschernobyl. Das Ziel war damals, künftig sehr detaillierte Informationen über den bodennahen Wind und den Niederschlag zu erhalten, um bei einem Unfall in einem grenznahen Kernkraftwerk schnell die Verlagerungsrichtung der radioaktiven Wolke abschätzen zu können.
Heute dient dieses Messnetz vielfältigen Anwendungen, wie Wettervorhersagen, Warnungen, Umweltanalysen und klimatologischen Auswertungen. Die Meteorologie hat in den Jahren nach Tschernobyl somit wichtige Aufgaben in der Krisenfallvorsorge übernommen. So ist die ZAMG Teil des österreichischen Krisen- und Katastrophenschutzmanagements. In regelmäßigen Übungen wird die Verlagerung der radioaktiven Wolke eines fiktiven Unfalles in einem europäischen Kernkraftwerk berechnet und die Koordination mit den staatlichen Stellen geprobt.
„Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Krisenfällen, in denen unsere Ausbreitungsrechnungen zur Anwendung kommen“, erklärt Paul Skomorowski, der an der ZAMG für das atmosphärische Krisenmodellsystem ENVINER zuständig ist, „entweder wird berechnet, wohin sich von einem bestimmten Punkt aus Teilchen in der Atmosphäre in den nächsten Stunden oder Tagen verlagern, zum Beispiel nach einem Unfall in einem Atomkraftwerk. Oder man berechnet, woher Teilchen in der Luft kommen, um zum Beispiel zu wissen, wodurch ein plötzlicher Anstieg von Schadstoffen verursacht wird beziehungsweise in welchem Bereich der Freisetzungsort gelegen sein kann. Wir entwickeln diese Ausbreitungsmodelle ständig weiter, etwa auf immer feinere regionale Auflösungen.“
International ist die ZAMG im Bereich Rückwärtsrechnung im Auftrag der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) eines von weltweit zehn Zentren, ein sogenanntes Regional Specialized Meteorological Centre (Melbourne, Montreal, Washington, Toulouse, Exeter, Offenbach, Obninsk, Peking, Tokyo, Wien). „Wird irgendwo auf der Erde erhöhte Radioaktivität gemessen, erfolgt eine Berechnung des Ausbreitungsmodells. So lässt sich zehn bis 15 Tage zurück die Quelle bestimmen“, sagt ZAMG-Experte Skomorowski.
So konnte die ZAMG zum Beispiel im Fall der sehr ungewöhnlichen Konzentrationen von Ruthenium, die in Europa im September 2017 gemessen wurden, durch Rückwärtsrechnungen das Verursachergebiet im Ural relativ rasch identifizieren. Auch während der tagelangen Waldbrände in der Sperrzone von Tschernobyl im April 2020 berechnete die ZAMG laufend die Verlagerung der Rauchwolken.
Nach einem internationalen Bewerbungsverfahren übernimmt die ZAMG ab Juni 2021 auch die Aufgaben eines Regional Specialized Meteorological Centre für Vorwärtsrechungen bei Störfällen in Atomkraftwerken. Gemeinsam mit den Zentren in Großbritannien, Frankreich und Deutschland wird die ZAMG zukünftig das internationale Krisenmanagement in Europa und Afrika im Ernstfall mit wichtigen Informationen über eine zu erwartende radioaktive Wolke versorgen.