Streit um Aussetzung von Impfstoff-Patenten

Es ist ein Dammbruch: In der Corona-Pandemie schlägt sich die US-Regierung jetzt auf die Seite ärmerer Länder und vieler Hilfsorganisationen. Sie will, dass Pharmafirmen vorübergehend den Patentschutz auf ihre Corona-Impfstoffe verlieren. Dann könnten Hersteller in aller Welt die Impfstoffe produzieren, ohne Lizenzgebühren an BioNTech/Pfizer, Moderna und Co zahlen zu müssen. Die Pharmafirmen laufen Sturm. Die EU zeigte sich offen für eine Debatte über Impfstoff-Patente.

Mehr als 160 Länder müssten zustimmen, dass internationale Copyright-Bestimmungen außer Kraft gesetzt werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich offen für eine Debatte über den US-Vorstoß. „Die Europäische Union ist bereit, jeden Vorschlag zu diskutieren, der diese Krise wirksam und pragmatisch angeht“, sagte von der Leyen am Donnerstag. Man müsse sehen, wie der US-Vorschlag diesem Ziel dienen könne. Es soll auch Thema des EU-Gipfels in Porto sein.

Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) schloss sich den Aussagen der Kommissionschefin an. „Wir unterstützen Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und sind offen für Gespräche sowie den WTO-Prozess, den die Amerikaner vorschlagen. Es ist wichtig, dass so viele Menschen wie möglich weltweit so rasch wie möglich geimpft werden, um die Pandemie zu besiegen“, hieß es am Donnerstag dazu aus dem Bundeskanzleramt auf Anfrage der APA.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigte sich positiv zur Forderung der USA. Er sagte am Donnerstag in Paris, er sei „absolut dafür, dass das geistige Eigentum aufgehoben wird“. Impfstoffe müssten zum „weltweiten öffentlichen Gut“ werden. Erste Priorität sei es aber, Entwicklungsländern „Dosen zu spenden“ und Impfstoffe „in Partnerschaft mit den ärmeren Ländern zu entwickeln“.

Deutschland zeigte sich uneinig. Außenminister Heiko Maas war offen für den Vorschlag, Gesundheitsminister Jens Spahn dagegen bremste. „Entscheidend ist vor allem der weitere Ausbau von Produktionsstätten“, teilte Spahn am Donnerstag mit. Er appellierte an die USA, ihre eigene Politik zu ändern: Staaten, in denen Impfstoff produziert werde, müssten bereit sein, diesen auch zu exportieren. „Die EU ist dazu in Wort und Tat bereit. Wir freuen uns, wenn die USA es nun auch sind“, fügte Spahn hinzu. Den USA wird außerdem vorgeworfen, dass sie den Export von Vorprodukten untersagten, die für eine Impfstoffproduktion in anderen Ländern wichtig sei.

Die USA stünden zwar hinter dem Schutz geistigen Eigentums, die Pandemie sei aber eine globale Krise, die außerordentliche Schritte erfordere, hatte die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai am Mittwoch gesagt. Das Ziel sei, „so viele sichere und wirksame Impfungen so schnell wie möglich zu so vielen Menschen wie möglich zu bringen“. Der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Tedros Adhanom Ghebreyesus, sprach auf Twitter von einer „historischen Entscheidung“. Damit könne der Ungleichheit bei der Verteilung der Impfstoffe begegnet werden.

UNO-Generalsekretär António Guterres erklärte, der US-Vorstoß „eröffnet Impfstoffherstellern die Möglichkeit, das Wissen und die Technologie zu teilen, um den effektiven Ausbau örtlich hergestellter Impfstoffe zu ermöglichen“. Es müsse dabei sichergestellt werden, dass den Ländern alle notwendigen Materialien zur Herstellung von Vakzinen zur Verfügung stünden, teilten die Vereinten Nationen am Donnerstag in New York mit. „Wir sind uns alle einig: Keiner von uns wird vor dem Virus sicher sein, bis wir alle sicher sind.“

Für die Pharmafirmen ist das ein Schlag. Der in Mainz ansässige BioNTech-Gründer Uğur Şahin lehnte die Lockerung des Urheberschutzes vergangene Woche noch ab: „Das ist keine Lösung“, sagte Şahin bei einer Veranstaltung des Vereins der Ausländischen Presse in Deutschland. Die Herstellung des Impfstoffs sei kompliziert, und die Qualität müsse sichergestellt werden. BioNTech erwäge aber die Lizenzvergabe an kompetente Hersteller.

Die Pharmaindustrie argumentiert, dass sie auf eigenes Risiko Millionen in die Forschung investiert. Die allermeisten Projekte versanden irgendwann. Wenn aber einmal ein erfolgreiches Mittel dabei herauskomme, müsse das Unternehmen auch Rendite machen können, um die Investitionen wieder hereinzuholen und Aktionäre zu belohnen. Außerdem hätten Pharmafirmen schon mehr als 200 Technologietransfer-Abkommen abgeschlossen, um mit Partnern in ärmeren Ländern mehr Impfstoffe bereitstellen zu können - aber unter Wahrung des Patentschutzes.

Der Verband der US-Pharmaunternehmen (PhRMA) warnte gar, dass es ohne Patente zur Verbreitung gepanschter Impfungen führen könne. Und der Verband der US-Biotech-Industrie (Bio) sieht gar die Gefahr, dass andere Länder die führende US-Rolle in der Biotechnologie untergraben könnten.

Eine Sprecherin von Pfizer sagte der „New York Times“, der Impfstoff habe 280 Komponenten von 86 Zulieferern aus 19 Ländern. Um das zu verarbeiten, seien komplexe Spezialanlagen und ausgebildetes Personal notwendig. In die Kerbe haut auch der Generaldirektor des Pharmaverbandes IMFPA, Thomas Cueni. Alles viel zu kompliziert: „Selbst, wenn die Patente ausgesetzt würden, würde in dieser Pandemie keine einzige zusätzliche Dosis die Menschen erreichen.“

Es gibt aber eine ganze Reihe von Herstellern, die sich das zutrauen. Die WHO hat bereits eine Plattform für den Technologietransfer speziell für die neuartigen mRNA-Impfstoffe von BioNTech/Pfizer und Moderna eingerichtet. Dort haben sich schon 50 Interessenten gemeldet, wie der verantwortliche Leiter bestätigt. Die meisten seien aber von Firmen, die um Technologietransfer bitten oder Einrichtungen, die sich als Trainingszentren bewerben - nur wenige hätten Interesse ausgedrückt, Wissen zu teilen.

Problematisch sind nach Darstellung der Pharmafirmen vielmehr Engpässe bei den Rohstoffen und dem Material. Die Denkfabrik Chatham House zeigte dies im März auf: Es fehlten Glasfläschchen, Bioreaktorbeutel für Zellkulturen, fötales Kälberserum als Medium für Zellkulturen und Nanopartikel, in die manche Impfstoffe eingelagert werden müssen. Die Industrie hat bis Ende 2021 rund 14 Milliarden Impfdosen in Aussicht gestellt, drei bis vier Mal so viel Impfstoff, wie bisher pro Jahr hergestellt wurde.

Der Verband der österreichischen Impfstoffhersteller (ÖVIH) betonte: Die Produktion von Impfstoffen ist ein äußert komplexer Prozess, zu dem wesentlich mehr gehöre als das Patent auf den jeweiligen Impfstoff. Gerade bei Covid-19-Impfstoffen gebe es bereits Technologietransfers, das Aussetzen von Patenten könne den aktuellen Mangel an Impfstoffen nicht lösen, langfristig aber der Forschung schaden. „Die größten Herausforderungen für die weltweite Impfstoffproduktion und -verteilung sind der zeitgleiche weltweite Bedarf gepaart mit Handelsbeschränkungen, Flaschenhälsen in den Lieferketten und knappe Rohmaterialien. Nicht die Patente“, erläuterte ÖVIH-Präsidentin Renée Gallo-Daniel. Ähnlich äußerte sich auch Pharmig, die freiwillige Interessenvertretung der österreichischen Pharmaindustrie.

Die Pharmafirmen, die die Technologie haben, wehren sich seit Monaten gegen eine Aufweichung des Patentschutzes. Den Vorstoß haben Indien und Südafrika im Oktober 2020 in der Welthandelsorganisation (WTO) eingebracht. Dort ist das TRIPS-Abkommen über den Schutz gestiegen Eigentums hinterlegt. Alle 164 Mitgliedsländer müssten zustimmen, entscheidende Passagen auszusetzen.

Die Kehrtwende der USA setzte unterdessen die Aktien von Impfstoffherstellern unter Druck. Die Papiere von BioNTech verloren am Donnerstag in Frankfurt mehr als 16 Prozent, die Titel von Curevac fast 15 Prozent. Bereits am Mittwoch waren die Aktien von Pfizer und Moderna im US-Handel abgerutscht.

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