Judith Hermanns neuer Roman „Daheim“ ist magisch

Es ist wie eine Episode aus einem finnischen Film. Eine Frau arbeitet in einer Zigarettenfabrik, abends sitzt sie rauchend auf ihrem Balkon mit Kunstrasen und schaut auf die Leuchtreklame einer Tankstelle. Dort trifft sie eines Tages einen Mann, der sie als Assistentin haben will, für seinen Zaubertrick mit der zersägten Kiste. Der Zauberer und seine Frau wollen sie mit auf Kreuzfahrt nach Singapur nehmen. Daraus wird nichts. Eine Kurzgeschichte wäre hier zu Ende.

In Judith Hermanns „Daheim“ ist es der magische Auftakt für einen Roman, der gerade die deutsche Literaturkritik betört. „Sie ist nicht nur in Einklang mit ihren künstlerischen Mitteln. Sie ist im besten Sinne und in aller Stille und Eleganz auch auf der Höhe der Zeit“, hieß es im Deutschlandfunk über die 50 Jahre alte Autorin. Viel war schon über Hermann zu lesen, Lobeshymnen und Verrisse. Sie galt als Stimme des Nach-Mauerfall-Berlins, ihre Bücher als Beweis, dass sich auch deutsche Kurzgeschichten sehr gut verkaufen können.

Seit „Sommerhaus, später“, ihrem sensationellen Debüt von 1998, sind die Erwartungen hoch. Nach Erzählbänden wie „Nichts als Gespenster“ und „Alice“ erschien 2014 ihr erster Roman, „Aller Liebe Anfang“. Mit „Daheim“ ist die „große Schriftstellerin“ („Die Zeit“) für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert, der am 28. Mai verliehen wird.

Das Buch spielt gut 30 Jahre nach der Episode mit dem Zauberer. Die namenlose Ich-Erzählerin hat sich von ihrem Mann Otis getrennt, sie schreibt ihm kleine Briefe. Die beiden haben eine Tochter namens Ann, die es in die Ferne zieht. Die namenlose Protagonistin lebt am Meer, es ist wohl die Nordsee. Hermann selbst, langjährige Berlinerin, verbringt viel Zeit in Friesland, das merkt man. Es gelingen ihr wunderbar atmosphärische Beschreibungen einer Landschaft, die nach wilder Kamille, trockener Erde und Salz riecht.

Die Erzählerin des Buch wohnt in einem Haus, das so einsam und windumtost ist, dass es nachts unheimlich ist. Ein Tier rumort auf dem Dach. Vielleicht ein Marder. Der Anblick der Marderfalle weckt Erinnerungen an die Zauberkiste. Im Hermann-Sound klingt das so: „Ich habe vor dieser Falle gestanden, und die Kiste ist zu mir zurückgekehrt wie ein Bild aus einem Traum, den du in der Nacht geträumt und am nächsten Morgen schon wieder verloren hast. Plötzlich, ganz leicht. Ein Gegenstand, der unter Wasser liegt, von etwas hochgedrückt wird und an die Wasseroberfläche kommt. Schwimmt. Ein Korken. Oder ein Tau.“

Die Erzählerin arbeitet in der Kneipe ihres Bruders, sie freundet sich mit der Dorfkünstlerin Mimi an. Der fast 60 Jahre alte Bruder hat sich in die 20 Jahre alte Nike verliebt, ein Heimkind, das als Kind manchmal tagelang in einer Kiste eingesperrt war. Ob das wirklich so war? Das ist Nebensache, ebenso, wofür die Kiste als Motiv des Buchs stehen mag. Vieles ist in der Schwebe. Jeder Satz, jede Beschreibung sitzt, viele Szenen bleiben hängen.

So wie diese: Die Erzählerin hat sich in den Bauer Arild verliebt, der nach Silage und After Shave riecht und ihr nach der ersten Nacht Tee und drei hartgekochte Eier serviert. Er fragt, ob sie die Schweine sehen will. Sie will. Hunderte Tiere stehen im Stall im Neonlicht. „Die Schweine sind sich alle absolut gleich, sie sehen merkwürdigerweise überhaupt nicht wie Schweine aus, es sind einfach zu viele. Fast alle blicken uns an.“ Arild geht danach wortlos in die Scheune. „Er sagt, mach‘s gut. Ich rolle mein Rad raus, steige auf und fahre los. Ich drehe mich nicht um, ich bin mir auch sicher, dass er weg und das Tor wieder geschlossen sein wird.“

Am Ende stirbt jemand. Und die Marderfalle schlägt zu. Es ist ein Buch über das Erinnern, das Aufbrechen und Ankommen, leicht, manchmal lustig, melancholisch und poetisch. Ganz sicher ist „Daheim“ einer der Romane des Jahres.

(S E R V I C E - Judith Hermann: „Daheim“, S. Fischer Verlag, 192 Seiten, 21,60 Euro)

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