EU-Zukunftskonferenz in Straßburg eröffnet
Die EU hat am Sonntag einen neuen Anlauf für umfassende Reformen gestartet. Mit einem Festakt in Straßburg begann die auf ein Jahr angelegte Konferenz zur Zukunft Europas, an der sich auch Bürger aktiv beteiligen können. Bis zum Frühjahr 2022 sollen Vorschläge erarbeitet werden, wie die EU mit ihren 27 Mitgliedsstaaten bürgerfreundlicher und effizienter werden könnte. EU-Ministerin Karoline Edtstadler und Bundespräsident Alexander Van der Bellen riefen zur Teilnahme auf.
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron sagte zur Eröffnung, die EU habe sich in der Corona-Pandemie bewährt. „Wir sind in der Krise zusammengeblieben“, betonte Macron. Die EU habe sich solidarisch gezeigt, den Schutz von Menschenleben in den Mittelpunkt gestellt, finanziell geholfen, Gesundheitssysteme gestärkt. Auch die Impfkampagne habe man erfolgreich zusammen organisiert. „Darauf müssen wir stolz sein, das war nicht selbstverständlich. Die europäische Kooperation hat Leben gerettet.“ Auch die Demokratie habe sich bewährt.
Doch müsse man nun überlegen, wie die EU in zehn Jahren aussehen solle. Es gehe um ein Modell, dass europäische Werte schütze. Forschung und Investitionen müssten gestärkt werden. Macron kritisierte den langen Vorlauf der Corona-Hilfen. Die USA könnten sich am solidarischen Modell Europas orientieren, doch Europa müsse sich auch den amerikanischen Aufbruchswillen zu Eigen machen. Wichtig seien große Träume und Ambitionen. Die Jugend sei dabei gefordert.
Macron hatte die Reformdebatte mit einer viel beachteten Rede an der Pariser Sorbonne-Universität 2017 eröffnet und seine Appelle über die Jahre immer wieder erneuert. Seit der Europawahl 2019 dringt auch das Europaparlament darauf, mit Reformen dem Votum der annähernd 450 Millionen Bürger in Europa mehr Gewicht zu geben.
Der Vorlauf war jedoch zäh, und auch jetzt sind die Erwartungen höchst unterschiedlich. So brachte zum Beispiel der Fraktionschef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, eine Direktwahl des EU-Kommissionspräsidenten ins Spiel. Die Doppelspitze mit dem Ratspräsidenten solle abgeschafft werden, sagte der CSU-Politiker dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND, Samstag).
Viele Mitgliedsstaaten scheuen hingegen weitreichende Korrekturen, für die die EU-Verträge geändert werden müssten. In einigen Ländern müsste es dann Volksabstimmungen geben, die in der Vergangenheit bisweilen scheiterten. Zudem fürchten die EU-Staaten eine Machtverschiebung nach Brüssel - weg von den Mitgliedsstaaten, hin zur EU-Kommission und zum Parlament.
Über Sinn und Ziele der Konferenz gab es deshalb bis zuletzt Streit. Noch vor wenigen Tagen drohten EU-Abgeordnete damit, die Auftaktveranstaltung deshalb platzen zu lassen. Dann gelang ein Kompromiss unter anderem zur Vertretung der Bürger in der Versammlung, die ab Herbst tagen und die Reformen genauer diskutieren soll. Bürger können sich auch über eine Online-Plattform beteiligen und Ideen einspeisen.
Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) regte an, sich einzubringen. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen appellierte in einem Aufruf gemeinsam mit 20 anderen gewählten europäischen Staatsoberhäuptern an die Europäer, sich zu beteiligen. Die Corona-Pandemie habe „Stärken der europäischen Integration aufgezeigt, aber auch ihre Schwächen“. „Über all das müssen wir reden.“
Edtstadler (ÖVP) forderte die Bürgerinnen und Bürger am Sonntag bei einer online übertragenen Diskussion zum „Digitalen Europatag“ auf, sich mit Ideen und Veranstaltungen einzubringen. „Wir wollen Ihre Beiträge, Ihre Inputs für die Zukunft Europas“, um „Europa zu einem besseren Ort machen“ zu können, sagte Edtstadler. Die EU-Institutionen hätten sich verpflichtet, die Antworten und Kritik der Bürger weiterzuverfolgen. Edtstadler betonte erneut, dass die EU-Zukunftskonferenz „ergebnisoffen“ sei. Man sollte dabei auch keine Scheu vor Vertragsänderungen haben, sagte sie. Die Bürger hätten drei Möglichkeiten sich einzubringen: über die Online-Plattform der EU-Kommission, über Veranstaltungen in Österreich, oder sie könnten auch selbst Veranstaltungen zur Zukunft Europas machen.
„Österreich, lass deine Stimme hören!“, sagte Dubravka Suica, die zuständige Vizepräsidentin der Europäischen Kommission in einer Videobotschaft. Die EU-Konferenz werde im Frühjahr 2022 Schlussfolgereungen aus den Beiträgen ziehen. Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) sagte ein einer Videobotschaft, wie sich die EU im internationalen Wettbewerb mit Russland, China und den USA positioniere, entscheide über den Erfolg Europas in den nächsten Jahrzehnten.
Andreas Schieder, Leiter der SPÖ-Delegation im Europaparlament beklagte, Österreich stehe gemeinsam mit anderen EU-Regierungen schon vor Start der EU-Zukunftskonferenz auf der Bremse. „Hinter der schön inszenierten Fassade heißt es also eigentlich: Nur bitte ja keine Ambition! (...) Leider ist Österreich unter Türkis-Grün Teil der EU-Verhinderer-Allianz.
NEOS-Europaabgeordneter Claudia Gamon zufolge sollte über die Ergebnisse der Zukunftskonferenz europaweit abgestimmt werden. Sowohl eine Mehrheit der europäischen Bevölkerung als auch eine Mehrheit der Staaten müssten den Vorschlag unterstützen. Außerdem fordern die NEOS eine Abschaffung des Rates der EU von Staats- und Regierungschefs bzw. Minister der Mitgliedstaaten, da dieser in fast allen Bereichen als Blockierer, Verhinderer und Verzögerer auftrete. Stattdessen solle sich das Europäische Parlament zum echten Gesetzgeber entwickeln und zu einem Zwei-Kammern-Parlament werden.
„Die am heutigen Europatag 2021 startende Konferenz zur Zukunft Europas ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten“, erklärte FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky. „Wo die Eurokraten Bürgerbeteiligung draufschreiben, ist nur eine Scheinmitsprache drin. Denn sie sehen die Zukunft Europas in noch mehr Zentralismus, noch mehr Bürokratie, noch weniger Souveränität für die Mitgliedsstaaten und damit noch weniger Mitspracherechte für deren Bürger. Die alte Brüsseler Zentralisierungsagenda soll mit der Zentralisten-Konferenzshow nur einen neuen Anstrich bekommen.“
Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier appellierte in einem Aufruf mit 20 weiteren gewählten Staatsoberhäuptern aus EU-Ländern an die Europäer, sich zu beteiligen. Die Corona-Pandemie habe „Stärken der europäischen Integration aufgezeigt, aber auch ihre Schwächen“. Darüber müsse man reden.
Der Start der Konferenz fällt zusammen mit dem traditionellen Europatag am 9. Mai. Eigentlich sollte sie schon vor genau einem Jahr beginnen. Doch die Pandemie kam dazwischen. Zudem stritten die EU-Institutionen monatelang über Sinn und Ziel der Konferenz.