Tunesiens Parlamentschef mahnt Rückkehr zur Demokratie an

Nach der Machtübernahme von Präsident Kais Saied in Tunesien hat Parlamentspräsident Rached Ghannouchi eine schnelle Rückkehr zur Demokratie angemahnt. Seine Ennahdha-Partei rufe die Tunesier auf, Saieds „Putsch“ mit „allen friedlichen Mitteln zu bekämpfen“, sagte Ghannouchi im AFP-Interview. Sollte es keine Vereinbarung mit Saied über die Rückkehr des Parlaments und die Regierungsbildung geben, werde seine Partei „das Volk zur Verteidigung seiner Demokratie auffordern“.

Mit seiner Entscheidung, den Regierungschef Hichem Mechichi zu entlassen und die Arbeit des Parlaments auszusetzen, hatte Saied am Sonntag ein politisches Erdbeben in Tunesien ausgelöst. Die islamistisch geprägte Ennahdha-Partei, stärkste Kraft in der bisherigen Regierungskoalition des nordafrikanischen Landes, warf Saied einen Staatsstreich vor. Auch internationale Regierungen zeigten sich besorgt um die junge tunesische Demokratie. Saied beharrt indes darauf, sein Vorgehen sei verfassungskonform.

Ghannouchi beklagte im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP, dass es „keinen Dialog mit dem Präsidenten oder seinen Beratern“ gebe. Seine Partei sei aber der Ansicht, „dass wir einen nationalen Dialog brauchen“. Um eine Rückkehr der Demokratie zu ermöglichen, sei seine Partei zu Zugeständnissen bereit, betonte der Parlamentschef mit Blick auf mögliche Neuwahlen. „Die tunesische Verfassung ist wichtiger als unser Machterhalt.“

Es sei ein „schwerer Fehler“ von Saied, „das Parlament unter Verschluss zu halten und einen Panzer vor sein Tor zu stellen“, betonte Ghannouchi weiter. Sollte sich der Präsident nicht auf eine Einigung zur Wiederaufnahme der parlamentarischen Arbeit und der Bildung einer Regierung einlassen, werde es „zweifelsohne eine Mobilisierung der Straße in Tunesien“ geben, warnte der Parlamentschef.

Angesprochen auf Forderungen einiger seiner Parteimitglieder, wegen Saieds Vorgehen internationale Hilfen für Tunesien einzufrieren, sagte Ghannouchi: „Wir rufen nicht dazu auf, die tunesische Bevölkerung hungern zu lassen.“ Zugleich sprach er von „internem und externem Druck“, der zur Wiederherstellung der Demokratie nötig sei.

Ghannouchi räumte auch Fehler seiner Partei ein. „Es gab Fehler im wirtschaftlichen und sozialen Bereich, und Ennahdha trägt jenen Teil der Verantwortung, der ihrem Anteil an der Macht entspricht.“ Ein Fehler sei es etwa gewesen, dass „die Parteien im Parlament kein Verfassungsgericht geschaffen“ hätten. Saied habe dies nun ausgenutzt, um „die Interpretation der Verfassung an sich zu reißen und sich selbst zum Verfassungsgericht zu machen“.

Die Einrichtung eines Verfassungsgerichts war in den vergangenen Jahren am Widerstand der Ennahdha-Partei gescheitert. Dem Vorgehen Saieds war ein monatelanger Machtkampf zwischen Ghannouchi und Regierungschef Mechichi auf der einen und Saied auf der anderen Seite vorausgegangen. Im Jänner hatte Saied eine von Mechichi angestrebte Regierungsumbildung unter Verweis auf mögliche Interessenskonflikte und Korruptionsvorwürfe gegen Ministerkandidaten verhindert.

Tunesien galt lange als Musterland des Arabischen Frühlings. Allerdings hat das Land auch zehn Jahre nach dem demokratischen Wandel nicht zu politischer Stabilität gefunden. Seit dem Sturz von Langzeit-Machthaber Zine El Abidine Ben Ali im Jänner 2011 gab es neun Regierungen, von denen sich einige nur Monate an der Macht halten konnten. Seit Jahren befindet sich Tunesien in einer schweren Wirtschaftskrise, die sich durch die Corona-Pandemie zusätzlich verschärfte.

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