Tötung von Tschetschenen in NÖ: Geschworene in Beratung

Beim Mordprozess am Freitag am Landesgericht Korneuburg hat der Angeklagte bestritten, den tschetschenischen Videoblogger und Regime-Kritiker Mamichan U. alias Martin B. am 4. Juli 2020 in Gerasdorf (Bezirk Korneuburg) erschossen zu haben. Der Beschuldigte wird durch Spuren, darunter Blut des Opfers am linken Schuh, belastet. Die Geschworenen gingen nach den Schlussvorträgen kurz nach 15.00 Uhr in Beratung. Dem Tschetschenen droht bei einem Schuldspruch lebenslange Haft.

Der Beschuldigte soll seinen 43-jährigen Landsmann laut Anklage durch sechs Schüsse aus geringer Entfernung mit einer Pistole getötet haben. Martin B. hatte unter dem Namen „Ansor aus Wien“ zahlreiche Youtube-Videos veröffentlicht, in denen er insbesondere den Regionalpräsidenten der russischen Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, beschimpfte. Aufgrund dieser Tätigkeit bestanden mehrere Morddrohungen gegen den 43-Jährigen, sagte der Staatsanwalt. Martin B. war über Jahre hinweg Informant für das Landesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung Wien.

Der 48-Jährige war laut Staatsanwaltschaft in der tschetschenischen Community als Waffenhändler bekannt. Martin B. und der Beschuldigte trafen sich laut Anklage auf einem abgelegenen Firmengelände, um ein Auto gegen eine Glock zu tauschen. Dabei soll der 48-Jährige im Pkw zunächst fünf Schüsse auf Martin B. am Beifahrersitz abgefeuert haben. Das Opfer fiel der Anklage zufolge beim Versuch, aus dem Auto zu flüchten, aus dem Pkw und blieb liegen. Da der Beschuldigte laut Staatsanwalt sicher gehen wollte, dass Martin B. „auch tatsächlich tot ist, feuerte er einen sechsten Schuss auf den Kopf des Opfers ab“. Der Verdächtige wurde noch am Abend des 4. Juli in Oberösterreich festgenommen.

Der Geschworenenprozess fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt, neben der Cobra standen auch Beamte des Verfassungsschutzes im Einsatz. Der Beschuldigte erklärte, als er am 4. Juli 2020 weggefahren sei, habe sein Landsmann noch gelebt.

Ein unbeteiligter Zeuge, der an diesem Tag im Einfahrtsbereich des Geländes gerade Reparaturen an seinem Lkw durchgeführt hatte, hörte mehrere Schüsse „ohne Pause“. Dann fuhr laut seiner Aussage ein Lenker in einem silbernen Auto mit hoher Geschwindigkeit weg und kam ihm dabei entgegen. Der Zeuge identifizierte den Mann anhand von Lichtbildern als den 48-Jährigen.

Fünf Millionen US-Dollar an Kopfgeld sei auf Martin B. ausgesetzt gewesen, berichtete sein Bodyguard am Freitag als Zeuge. Die beiden hatten den Angaben zufolge deshalb daran gedacht, eine Schein-Hinrichtung des 43-Jährigen zu inszenieren, um abzukassieren. Diese Überlegungen wurden aber wieder verworfen. In diesem Zusammenhang hatte der Leibwächter in einem Video gehört, dass die Tatwaffe persönlich bei Kadyrow abgeliefert werden solle.

Polizeischutz lehnte das spätere Opfer ab - begleiten ließ sich der Mann allerdings von einem 37-Jährigen, der auch als Kadyrow-Kritiker gilt. Martin B. hielt den Angeklagten laut dem Leibwächter für ungefährlich. Er habe seinem Freund von einem Treffen abraten wollen, sagte der Tschetschene. Die Bluttat habe er aus seinem Versteck in einer Halle auf dem Gelände gehört, aber nicht gesehen. „Einige Schüsse fielen hintereinander, dann war Pause und dann fiel noch ein Schuss“, berichtete der Leibwächter. Der Angeklagte habe eine Waffe in der Hand gehalten. „Ich möchte mein herzliches Beileid aussprechen“, sagte der Freund des Opfers in Richtung der ebenfalls beim Prozess anwesenden Witwe von Martin B. am Ende seiner Aussage.

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Das Handy des Angeklagten wurde ebenso wie die Tatwaffe nicht entdeckt, anhand von Munition und Hülsen wurde auf eine Glock geschlossen. Belastet wird der Beschuldigte durch Spuren. Keine Erklärung hatte er für Blut des Opfers, das auf dem linken Schuh entdeckt wurde. „Massive Beschmauchung“ wurde dem Schießsachverständigen zufolge am Gewand festgestellt, das der 48-Jährige bei der Festnahme anhatte. Die Treffer erhielt das Opfer bei einer Fluchtbewegung aus dem Auto, rekonstruierte der Gutachter das mögliche Tatgeschehen. Die Darstellung des Tschetschenen, dass die Schmauchspuren an der Hand von Schüssen in Deutschland und Oberösterreich 14 bzw. mehrere Tage vor dem 4. Juli 2020 stammten, wurde von Experten als unrealistisch angesehen.

„Es handelt sich mehr oder weniger fast um eine Hinrichtung, so wie der Ablauf war“, sagte der Staatsanwalt im Schlussvortrag. Die tatsächliche Motivation konnte im Gerichtsverfahren nicht erklärt werden - ob ein Waffenhandel in einem Streit geendet habe oder der Mord doch politisch motiviert gewesen sei. Der Verteidiger verwies darauf, dass sein Mandant laut seinen Angaben den Tatort verließ, als Martin B. noch lebte. Der Rechtsanwalt brachte den Begleiter von Martin B. als mutmaßlichen Täter ins Spiel. „Es ist gut möglich, dass der gute Freund ein Verräter ist“, meinte er im Schlussplädoyer. Dass der Leibwächter mit der Tatwaffe geschossen hatte, war laut Gutachtern allerdings anhand der Spuren auf seiner Kleidung „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ auszuschließen.

Die Geschworenen haben eine Hauptfrage nach Mord zu beantworten. Der Angeklagte betonte in seinen Schlussworten, dass es weder Motiv noch Tatwaffe noch Beweise gebe: „Sie haben gar nichts.“ Weiters erklärte er: „Der echte Täter ist geflüchtet.“

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