Mehr als Hälfte der Provinzhauptstädte an Taliban gefallen
Die militant-islamistischen Taliban haben in Afghanistan ihre Gebietsgewinne rasant fortgesetzt und binnen einer Woche mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte eingenommen. Am Freitag waren laut dpa 18 der 34 Provinzhauptstädte unter Kontrolle der Islamisten. Nach der zweitgrößten Stadt Kandahar in der Nacht und der Stadt Laschkargah in der Früh eroberten die Taliban mit Pul-e Alam in der Provinz Logar eine Provinzhauptstadt nur 70 Kilometer südlich der Hauptstadt Kabul.
Die Taliban hätten dort die wichtigsten Regierungseinrichtungen der Stadt übernommen und den Provinzgouverneur sowie den Geheimdienstchef gefangen genommen, sagten ein Provinzrat und ein Parlamentarier der Deutschen Presse-Agentur. Aus Sicherheitskreisen heißt es seit längerem, dass in der Provinz Logar Taliban-Kämpfer für einen Angriff auf Kabul versammelt werden. Die Taliban kontrollieren fünf der sieben Bezirke, die zwei näher zur Provinz Kabul liegenden - Khoshai und Mohammed Agha - sind umkämpft. Von Pul-e Alam sind es nur rund eineinhalb Stunden mit dem Auto nach Kabul.
Der afghanische Präsident Ashraf Ghani schwieg lange zur Lage. Am Freitagnachmittag (Ortszeit) teilte sein Vizepräsident Amrullah Saleh mit, in einer Sicherheitssitzung im Präsidentenpalast sei entschieden worden, weiter der „Armee der Ignoranz und des Terrors“, damit meinte er die Taliban, entgegenzustehen. Man werde den Sicherheitskräften alle dafür notwendigen Mittel zur Verfügung stellen. Es wird geschätzt, dass es rund 300.000 Sicherheitskräfte und 60.000 Taliban-Kampfer gibt.
Mehrere Staaten bereiten sich mittlerweile auf die Evakuierung ihrer Botschaftsmitarbeiter und anderer Staatsbürger vor. Die US-Streitkräfte verlegen sofort rund 3.000 zusätzliche Soldaten an den Flughafen in Kabul. Damit solle eine geordnete Reduzierung des US-Botschaftspersonals unterstützt werden, hieß es von einem Sprecher des US-Verteidigungsministeriums. Nach Informationen der „New York Times“ haben US-Unterhändler Vertreter der Taliban gebeten, die US-Botschaft in Kabul nicht anzugreifen, falls sie die Regierungsgeschäfte übernehmen und jemals ausländische Hilfe bekommen wollen.
Zudem verlegen die USA demnach bis zu 4.000 weitere Soldatinnen und Soldaten nach Kuwait und 1.000 nach Katar - für den Fall, dass Verstärkung gebraucht wird. Der Abzug der US-Soldaten aus Afghanistan solle aber bis 31. August abgeschlossen werden, so der Sprecher am Donnerstag (Ortszeit).
Auch Großbritannien will rund 600 zusätzliche Soldaten schicken, um die Rückführung von Briten aus Afghanistan zu sichern. Zuletzt hatte US-Präsident Joe Biden am Donnerstag im Weißen Haus erklärt, die Afghanen müssten nun „selbst kämpfen, um ihren Staat kämpfen“.
Deutschland kündigte am Freitag an, das Personal der deutschen Botschaft in Kabul in den nächsten Tagen auf das „absolute Minimum“ zu reduzieren. Die Botschaftsmitarbeiter würden mit Chartermaschinen ausgeflogen, sagte der deutsche Außenminister Heiko Maas. Darin würden auch afghanische Ortskräfte, die früher für die Bundeswehr oder deutsche Ministerien gearbeitet haben oder heute noch für sie arbeiten, ausgeflogen. Zwei Charterflüge waren dafür bis Ende des Monats geplant. Diese würden nun vorgezogen, hieß es. Maas rief alle Deutschen auf, das Land sofort zu verlassen. Eine hohe zweistellige Zahl deutscher Staatsbürger sind noch im Land.
Nach Einschätzung der Vereinten Nationen wird die Lage der Menschen in Afghanistan immer verzweifelter. „Wir stehen kurz vor einer humanitären Katastrophe“, sagte eine Sprecherin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR am Freitag in Genf. Vor allem Frauen und Kinder würden vor den vorrückenden Taliban flüchten. Inzwischen sei die Lebensmittelversorgung von etwa einem Drittel der Bevölkerung nicht mehr sichergestellt, erklärte ein Sprecher des UN-Welternährungsprogramms (WFP). Allein zwei Millionen Kinder seien auf Hilfe angewiesen. Die Lage werde immer unübersichtlicher.
Die Taliban nähern sich weiter einer militärischen Machtübernahme im Land. Am Freitag folgte die Einnahme der Städte Feruz Koh in der Provinz Ghor, Terenkot in der Provinz Uruzgan und Qalat in der Provinz Zabul. Drei Großstädte, darunter die Hauptstadt Kabul und Mazar-i-Sharif im Norden, sind noch unter Kontrolle der Regierung. Es gibt Berichte über Angriffe auf weitere kleinere Provinzhauptstädte des Landes.
In Kandahar hatte es mehr als drei Wochen lang schwere Zusammenstöße zwischen der Regierung und den Taliban gegeben, bevor die Sicherheitskräfte in der Nacht zum Freitag die zweitgrößte Stadt des Landes räumten, wie der Parlamentarier Gul Ahmad Kamin sagte, der die Provinz im Parlament vertritt.
Die Regierungstruppen hätten schließlich die wichtigsten Behörden verlassen und im 205. Armeekorps der Provinz Zuflucht gesucht. Kandahar mit seinen mehr als 650.000 Einwohnern ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz und das wirtschaftliche Zentrum des Südens. Sie war auch Geburtsort der Taliban-Bewegung in den 1990er Jahren. Die Stadt diente zudem als Hauptstadt der Islamisten während ihrer Herrschaft zwischen 1996 und 2001.
Auch Lashkar Gah in der Provinz Helmand war seit Wochen schwer umkämpft. Viele Afghanen gingen aufgrund der heftigen Angriffe davon aus, dass sie die erste wichtige Stadt sein werde, die an die Islamisten fällt. Als die Regierung Ende Juli nur mehr zwei der zehn Polizeibezirke in der Stadt mit geschätzt 200.000 Einwohnern hielt, wurden aus Kabul noch einmal Spezialkräfte entsandt. Diese schafften es mit Unterstützung durch viele Luftangriffe der afghanischen und der US-Streitkräfte zunächst, die Lage zu stabilisieren, wobei aber auch etwa ein Krankenhaus und eine Universität getroffen wurden.
Nach anhaltenden schweren Angriffen und dem Einsatz auch von Autobomben gegen das noch von der Regierung gehaltene Polizeihauptquartier allerdings wendete sich die Situation in der Nacht zu Freitag zugunsten der Taliban. Der Provinzrat Abdul Majid Achundsada sagte am Freitag früh (Ortszeit), die Taliban hätten die gesamte Stadt eingenommen. Der Kommandant des 205. Armeekorps, Sami Sadat, sei mit dem Gouverneur ausgeflogen worden. Restliche verbliebene Sicherheitskräfte hätten die Stadt auf dem Landweg verlassen.
Am Donnerstag alleine konnten die Islamisten drei Städte einnehmen - darunter die drittgrößte Stadt Herat und die strategisch wichtige Stadt Ghazni, die nur 150 Kilometer von Kabul entfernt liegt.
Angesichts der verschärften Sicherheitslage in Afghanistan prüft das österreichischen Außenministerium unterdessen den Aufenthalt von Österreichern in dem Krisenstaat. Derzeit sei eine „sehr niedrige Zahl im zweistelligen Bereich“ an österreichischen Staatsbürgern in Afghanistan registriert, sagte eine Ministeriumssprecherin am Freitag der APA. Man überprüfe gerade, wer überhaupt noch in dem Land sei. Bisher habe sich aber noch „keine Person an uns gewandt“.
Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace warnte unterdessen vor einer Rückkehr des Terrornetzwerkes Al-Kaida nach Afghanistan. Der Abzug westlicher Truppen komme zum falschen Zeitpunkt, sagte er dem britischen Nachrichtensender Sky News am Freitag. „Al-Kaida wird wahrscheinlich zurückkommen“, sagte Wallace.
Wallace schloss indes nicht aus, erneut britische Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Das könne der Fall sein, wenn sich dort die Extremisten der Al-Kaida in einer Weise aufstellten, dass sie den Westen bedrohten, sagt der Verteidigungsminister dem Sender LBC. „Ich lasse mir da jede Option offen.“
Nach Ansicht von Russlands Außenminister Sergej Lawrow schwindet die Hoffnung auf eine diplomatische Lösung des Konflikts in Afghanistan. „Wir sprechen mit allen mehr oder weniger bedeutenden politischen Kräften in Afghanistan - sowohl mit der Regierung als auch mit den Taliban“, sagte er am Freitag bei einem Besuch in dem südrussischen Dorf Sambek der Agentur Interfax zufolge. „Wir sehen aber, wie schwierig es ist, in der afghanischen Gesellschaft einen Konsens zu finden.“
Zugleich verurteilte Lawrow das Vorgehen der Taliban. Sie hätten beschlossen, die Situation militärisch zu lösen. „Sie erobern immer mehr Städte und Landkreise. Das ist falsch“, sagte er. Russland hat sich wiederholt für einen Dialog zwischen der afghanischen Regierung, den Taliban und anderen Gruppen des Landes ausgesprochen - und dafür auch Konferenzen organisiert, um die Gespräche voranzutreiben.