Neues Familienporträt: Edmund de Waal schreibt an „Camondo“

Edmund de Waal ist Töpfer und wenn er Bücher schreibt, dann mit der behutsamen Formgebung einer Porzellanmanufaktur. Romane werden nicht daraus, eher Berichte einer Spurensuche. „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ (2010) war so einer, auch „Die weiße Straße“ (2015). Jetzt legt der britische Nachfahre der Familie Ephrussi „Camondo“ vor: eine Sammlung von Briefen, die er an den gleichnamigen jüdischen Mäzen und entfernten Verwandten aus der Pariser „Belle Epoque“ geschrieben hat.

Wie alle Geschichten, die de Waal aus dem Fundus der Historiografie erzählt, sind sie zerbrechlich in ihrem Wesen und zugleich tief und weit wuchernd verwurzelt in der europäischen Geistesgeschichte. „Ich könnte eventuell einen Stammbaum zeichnen, aber das wäre ein ziemliches Spinnennetz“, beschreibt er die komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse der wohlhabenden jüdischen Familien, die über Paris und Wien miteinander verflochten sind. Nachdem er in „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ die Geschichte seiner Familie, der Ephrussi, von Odessa über Paris bis Wien und von dort in Vernichtung und Vertreibung nachzeichnete, widmet er sich in „Camondo“ der gleichnamigen Bankiersfamilie mit Sitz in Paris.

Genauer gesagt in einem Privatmuseum, das Moise de Camondo seinem im Ersten Weltkrieg gefallenen Sohn Nissim widmete. Es ist das Haus der Familie in der Rue Monceau, eingerichtet und bestückt wie einst, denn der Bankier verfügte bei seiner Schenkung an den Staat, dass aus der Sammlung nichts geliehen und ihr nichts hinzugefügt werden dürfe, mit einer einzigen Ausnahme für die „Gazette des beaux-arts“, deren weitere Ausgaben - gebunden in rotes Saffianleder! - Eingang finden sollen. Edmund de Waal, Spurensucher und Nachspürer, verbringt dort seine Tage, lässt seinen Blick ruhen, stöbert in den Archiven, lauscht den Räumen und Gegenständen, dem Licht und den Gerüchen ein Familienporträt ab. Wählt das Du - auf Deutsch: das Sie - als Erzählform, den fiktiven Brief als vorsichtiges Werkzeug der Annäherung.

Es gibt vieles zu lernen auf den liebevoll in Leinen gefassten und mit Originalfotografien ergänzten Seiten: über die Liebe zur Kunst und den Hass auf die Juden, über eine Familie mit ihren Sorgen und Freuden, mit Liebschaften und Sehnsüchten. Über Reichtum, der sich nicht nur in einem exquisiten Lebensstil, sondern auch im Denken, im Schreiben, im Geschmack manifestiert, der im Biotop des Pariser Savoir Vivre zu den künstlerischen Höhenflügen einer Epoche beiträgt und der mit den Kriegen, mit Vichy-Regierung und Nazi-Schergen, mit Enteignung, Deportation und Massenmord in unvorstellbar kurzer Zeit zu unvorstellbar grauer Asche zerfällt. Das Entsetzen darüber hat Edmund de Waal längst durchschritten, anhand des eigenen Erbes, hat es behutsam betrachtet und getöpfert und beschrieben - aber es hört nicht auf.

Mit seinem neuen Buch wird Edmund de Waal auch wieder mehrfach in Wien zu erleben sein. Er präsentiert „Camondo“ am 10. November im MAK sowie am 11. bei der Buch Wien, daneben steht auch sein „Hase mit den Bernsteinaugen“ im Mittelpunkt, der heuer bei der Aktion „Eine Stadt. Ein Buch.“ kostenlos verteilt wird. De Waal wird die Aktion eröffnen und wird im Rahmen einer Gala zu seinen Ehren am 12. November im Rathaus erwartet.

(S E R V I C E - „Camondo. Eine Familiengeschichte in Briefen“ von Edmund de Waal. Übersetzt von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay Verlag, 192 Seiten, 26,80 Euro)

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