Industrie und Utopie: Industriebiennale am russischen Ural
Unter dem Motto „Zeit einander zu umarmen und Umarmungen auszuweichen“ hat am Wochenende die sechste Ural-Industriebiennale für zeitgenössische Kunst im russischen Jekaterinburg eröffnet. Die Biennale, die auch für ihre faszinierende Locations bekannt ist, galt zuletzt als international relevantester Kunstevent Russlands: Ausländische Künstlerinnen und Künstler spielten auch 2021 eine wichtige Rolle, die Hauptausstellung verantworte ein multinationales Team aus Deutschland.
Während im offiziellen Moskau antiwestliche Rhetorik zunimmt und zuletzt etwa am Feindbild Deutschland gearbeitet wurde, ticken die Uhren am Ural anders: Die erstmals 2010 durchgeführte und damals von der nunmehrigen steirischen Herbst-Intendantin Ekaterina Degot ko-kuratierte Ural-Industriebiennale blieb sich treu. Sie ist ein Kind der vergleichsweise liberalen Ära von Kurzzeitpräsident Dmitri Medwedew (2008-2012), der seinerzeit gerne von „Innovation“ sprach.
Abgesehen von staatlichen Subventionsgebern und lokalen Industriegiganten kooperierte die sechste Ausgabe eng mit dem deutschen Goethe-Institut sowie mit den Botschaften von Schweden und der Niederlande. Die Biennale habe die Sicht auf die Industrialisierung der Region verändert und einen Bewusstseinswandel bewirkt, lobte eine lokale Kulturpolitikerin.
Das Hauptprojekt der diesjährigen Biennale konzentriert sich auf menschliche Berührungen, und diese Themenwahl hatte nicht nur mit der Corona-Pandemie zu tun, die selbst dieser Tage vor Ort praktisch ignoriert wurde: In ihrem Konzept bezogen sich die in Deutschland lebenden Kuratoren Çağla Ilk, Adnan Yıldız und Assaf Kimmel auf die 1920 verfasste Antiutopie „Wir“: In seinem visionären Roman, der erst 1988 in der Sowjetunion veröffentlicht werden durfte, hatte Jewgeni Samjatin das zum Scheitern verurteilte Ausbrechen eines Individuums aus dem Kollektivismus eines völlig totalitären Staates beschrieben.
Anders als bei früheren Ausgaben verteilten die Kuratoren ihre Hauptschau auf mehrere Locations: Auf der Außenfassade des zentralen Postamts, eines Meisterwerks des sowjetischen Konstruktivismus der frühen 1930er, ließ der türkische Künstler Egemen Demirci etwa den Schriftzug „An alle Morgen, an die wir bevorzugt nicht glauben“ montieren. Drinnen können im Geist Samjatins Briefe aufgegeben werden, deren Zustellung die russische Post in genau 100 Jahren verspricht.
Neben Museen und einem Kino stechen aber vor allem ungewöhnliche Ausstellungsorte hervor. Im Zirkus, der derzeit einer Renovierung harrt, setzen die Kuratoren naheliegend auf Performances. Während es der Oktopus von Rimini Protokoll-Mitglied Stefan Haegi aus logistischen Gründen nicht an den Ural schaffte und deshalb „Solo pour Octopus“ nur als Video präsentiert werden kann, gab etwa der künftiger Star gehandelte Theaterregisseur Juri Kwjatkowski zur Eröffnung berührende Miniaturen für die Zirkusarena.
Hatte die Biennale 2019 eine renovierungsbedürftige Fabrikshalle verwendet, ist ein größerer Teil der Hauptschau nun in einer neuen, hochpolierten Halle zu sehen. Während nebenan unentwegt produziert wird, zeigen die Kuratoren hier Arbeiten, die sich in Anspielung an ein Sujet von Samjatins „Wir“ mit dem Schaffen einer wohnlichen Atmosphäre beschäftigen.
Die auf derartige Projekte spezialisierte Deutsche Henrike Naumann erwarb im Internet lokale Einrichtungsgegenstände und rekonstruierte damit Befindlichkeiten der Region, für die laut ihrer Beobachtung Schamanismus und Waffenindustrie eine wichtige Rolle spielen. Die Bosnierin Šejla Kamerić zeigt indes eines ihrer großen textilen Netze aus Serie „Gehäkelt“, die auf eine körperliche Tätigkeit von Frauen in Kriegszeiten verweist.
Heimelig eingerichtet hat es sich sichtlich auch ein Gefängniswärter in einem Wärterhäuschen, das sich hinter Stacheldraht in der historischen Installation von Hale Tenger befindet. Die Künstlerin aus Istanbul hatte 1995 mit dieser Arbeit gegen ihre Strafverfolgung wegen Herabsetzung des Türkentums protestiert und wollte auf die prekäre Situation der Kunst in ihrem Land verweisen. Daran - so sagte sie der APA - habe sich zwischenzeitlich nichts verbessert. Unausgesprochen in Jekaterinburg blieb, dass Tengers Arbeit freilich auch auf vergleichbare Fälle in Russland bezogen werden könnte.
Brisante Bezüge ergeben sich aber auch in der Videoarbeit „Two Minutes to Midnight“ der israelischen Künstlerin Yael Bartana, die sich mit der Antwort einer weiblichen Regierung auf die kriegstreiberische Rhetorik eines US-Präsidenten namens „Twittler“ beschäftigt: Die fiktive Präsidentin lässt sich von führenden internationalen Expertinnen beraten, darunter die österreichische Außenpolitikerin Christine Muttonen, und entscheidet schließlich, Waffen begraben zu lassen. In der Ural-Region, die neben Schwerindustrie, insbesondere vom militärisch-industriellen Komplex dominiert wird, scheint dies einstweilen keine Option zu sein. Der staatliche Industrie- und Waffenkonzern Rostec fungierte 2021 als einer Hauptsponsoren der Biennale.
Ethische Problemzonen der diesjährigen Industriebiennale wurden indes vor allem in jenem Teil deutlich, der außerhalb der Provinzmetropole stattfindet. Im Rahmen eines Artist-in-Residence-Programms entwickelten Künstler Projekte, die von vor Ort de facto herrschenden Industriekonzernen unterstützt und damit erst ermöglicht wurden. So konnte der schwedisch-iranische Künstler Behzad Noori in der Stadt Asbest, einer der größten Produktionsstädten des wegen seiner krebserregenden Wirkung in der EU verbotenen Dämmstoffs, eine abstrakte Skulptur in Anspielung an den hier seinerzeit tätigen Modernisten Ernst Neiswestny verwirklichen.
In Nischni Tagil kuratierte der sibirische Künstler Aleksandr Sakirow eine beachtliche künstlerische Retrospektive, die der umtriebigen Kunstszene dieser zweitwichtigsten Industriestadt der Region gewidmet ist. Einige Künstler nahmen an dieser Schau lediglich anonym teil - sie protestierten damit still gegen einen Sponsor, dessen metallurgisches Kombinat vor Ort für massive Luftverschmutzung verantwortlich gemacht wird.
Als höchst problematisch erwies sich aber auch die Geschichte des Dorfes Sokol, in dem der auf toxische Umgebungen spezialisierte russische Maler Pawel Otdelnow die dramatischen Auswirkungen einer Nuklearkatastrophe des Jahres 1957 rekonstruierte. Während russische Besucher von einem Schlüsselprojekt der diesjährigen Industriebiennale sprachen, konnten Ausländer Otdelnows Projekt am Wochenende nur aus der Ferne beurteilen: Sokol ist einer jener verstrahlten Orte am Ural, die ausländische Staatsbürger nur mit einer Sonderbewilligung des Geheimdiensts besuchen dürfen.
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