Medizin-Nobelpreis für Forschung zu Berührungsempfinden

Der US-Forscher David Julius und der im Libanon geborene Molekularbiologe Ardem Patapoutian erhalten den diesjährigen Medizin-Nobelpreis für ihre Entdeckungen der menschlichen Rezeptoren für Temperatur- und Berührungsempfinden. Das Wissen werde genutzt, um Behandlungen für eine Reihe von Krankheiten zu entwickeln, darunter chronische Schmerzen, teilte das Nobelpreiskomitee am Montag in Stockholm mit. Die Dotierung beträgt wie im Vorjahr zehn Millionen Kronen (985.000 Euro).

Die Preisträger hätten wichtige Verbindungen im Verständnis der komplexen Verbindungen zwischen unseren Sinnen und der Umwelt aufgezeigt, hieß es in der Begründung zu den Nobelpreisen. Die bahnbrechenden Entdeckungen durch die diesjährigen Nobelpreisträger, die die Auszeichnung zu gleichen Teilen erhalten, „haben es uns ermöglicht zu verstehen, wie Wärme, Kälte und mechanische Kräfte die Nervenimpulse auslösen, die es uns ermöglichen, die Welt um uns herum wahrzunehmen und uns an sie anzupassen“, so das Komitee.

Julius und Patapoutian waren für das Gremium schwierig zu erreichen. In Kontakt mit den beiden Forschern kam man erst über Angehörige, sagte der Sekretär der Nobelversammlung des Stockholmer Karolinska-Instituts, Thomas Perlmann. Als er sie dann doch telefonisch erreicht habe, hätten sie überrascht und sehr, sehr froh reagiert, sagte Perlmann.

Der 65 Jahre alte US-Amerikaner Julius nutzte Capsaicin, eine scharfe Verbindung aus Chilischoten, die ein brennendes Gefühl hervorruft, um einen Sensor in den Nervenenden der Haut zu identifizieren, der auf Hitze reagiert. In den 1990er-Jahren gingen Julius und Kollegen an der University of California in San Francisco daran, mögliche Gene zu identifizieren, die mit dem Empfinden von Hitze, Schmerz und Berührung in Zusammenhang stehen könnten. Sie brachten diese Erbgut-Kandidaten in Zellen ein, die normalerweise nicht auf derartige Reize reagierten. In akribischer Detailarbeit zeigen sie, dass ein einziges Gen derartige Zellen empfänglich für die Reizung mit Capsaicin macht.

Julius fand heraus, dass das Gen als Bauvorlage für ein Protein fungiert, das einen bis dato unbekannten Kanal in das Innere der Zelle (Ionenkanal) darstellt. Der fortan „TRPV1“ genannte Zellzugang entpuppte sich als Sensor zur Wahrnehmung von Hitze, da er sich bei schmerzhaften Temperaturen von über 43 Grad Celsius öffnet. Beim Experimentieren mit Menthol fanden unabhängig voneinander Julius und sein Ko-Preisträger Patapoutian heraus, dass der sogenannte „TRPM8“-Rezeptor auf Kälte reagiert. In der Folge wurden weitere Sensoren identifiziert, die Reize in verschiedenen Temperaturbereichen in Nervensignale übersetzen können.

Der 1967 im Libanon geborene Patapoutian machte sich überdies auf die Suche nach den biologischen Grundlagen der Wahrnehmung von Druck. Wie dies vonstattengeht, war davor lediglich bei niedrigeren Lebewesen wie Bakterien nachgewiesen worden. Am Scripps Research Institut im südkalifornischen La Jolla fanden die Forscher Zellen, die ein messbares elektrisches Signal aussandten, wenn sie mit einer feinen Pipette angestoßen wurden. Patapoutian und seine Kollegen gingen mit dem Ausschlussverfahren daran, den Ionenkanal ausfindig zu machen, der dafür verantwortlich ist.

Das Team schaltete nacheinander 72 Gene aus, von denen man annahm, dass sie die Basis für die Bildung des Kanals sein könnten. Deaktivierte man ein bestimmtes Gen, wurde die Zelle tatsächlich unempfindlich. Nach dem griechischen Wort für Druck (piesi) benannten Patapoutian und Kollegen den Ionenkanal „Piezo1“. In der Folge zeigte der Preisträger, dass auch ein ähnlicher Zellzugang namens „Piezo2“ von einer durch Druck ausgelösten Veränderung auf der Zelloberfläche zum Öffnen gebracht wird.

Vor allem „Piezo2“ entpuppte sich für die Wahrnehmung von Berührungen als besonders wichtig. Ebenso ist die Struktur am Gefühl der Bewegung des Körpers und seiner Lage im Raum, aber auch an der Regulation des Blutdrucks, des Atmens oder des Harndranges beteiligt. In Studien mit Menschen, bei denen diese Kanäle verändert sind, zeigten sich diverse Veränderungen in der Wahrnehmung von Temperatur, Schmerz oder von Vibrationen. Die Erkenntnisse der beiden Medizin-Nobelpreisträger hätten Einsichten in zahlreiche Abläufe im Körper gebracht, und könnten dazu beitragen, etwa mit chronischen Schmerzen einhergehende Erkrankungen zu lindern, heißt es.

„Ein nächster Schritt wäre, dass man in der Behandlung neuropathischer Schmerzen bessere Medikamente findet“, sagte der Neurologe Fritz Zimprich vor allem in Bezug auf die Forschung von Julius. „Dann wäre diesen Menschen sehr geholfen“, betonte der Oberarzt an der Universitätsklinik für Neurologie an der MedUni Wien/AKH. Bisher könne man die Schmerzen meist nur lindern, die Mittel dafür seien sehr teuer und mit vielen Nebenwirkungen behaftet. Zimprich zeigte sich im Gespräch mit der APA überrascht von der Wahl des Nobelpreis-Komitees. Er habe gedacht, dass die Medizin-Auszeichnung heuer an Coronavirus-Forscher geht, da das „ein bestimmendes Thema“ war. Der Preis sei allerdings „verdient“. Julius und Patapoutian hätten dazu beigetragen, dass man „grundlegende Dinge versteht“.

Mit der Bekanntgabe am Montag eröffnete das Komitee die diesjährige Nobelpreis-Woche. Am Dienstag erfolgt die Verkündung des Preisträgers für Physik, die Tage darauf die Auszeichnungen für Chemie, Literatur und Frieden und am Montag kommende Woche jene für Wirtschaftswissenschaften. Im Vorjahr war der Nobelpreis für Medizin an Harvey J. Alter (USA), Michael Houghton (Großbritannien) und Charles M. Rice (USA) für ihre Beiträge zur Entdeckung des Hepatitis-C-Virus gegangen.

Übergeben wird der Preis alljährlich am 10. Dezember, dem Todestag des Stifters Alfred Nobel. Die Nobelpreisträgerinnen und -träger werden ihre Auszeichnungen wegen der Coronavirus-Pandemie heuer erneut in ihren Heimatländern statt in Stockholm in Empfang nehmen. Die jeweiligen Preisübergaben in den wissenschaftlichen Kategorien sowie Literatur werden am 10. Dezember mit einer Preiszeremonie im Stockholmer Rathaus verwoben. Das norwegische Nobelkomitee hält sich noch die Möglichkeit offen, den Friedensnobelpreis wie üblich in Oslo zu verleihen.

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