Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek ist 75

Aus der Öffentlichkeit hat sie sich seit langem zurückgezogen. Daher wird Elfriede Jelinek wohl auch am 21. November bei der Nestroy-Gala ihren Lebenswerk-Preis nicht persönlich, sondern per Gruß- oder Videobotschaft entgegennehmen. Texte publiziert die Nobelpreisträgerin des Jahres 2004 jedoch unermüdlich. Erst jüngst gab es die Österreichische Erstaufführung ihres Corona-Stücks „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ im Akademietheater. Heute, Mittwoch, wird Jelinek 75.

Die Liste der Ehrungen ist schier unüberschaubar. Jüngst kam der Beschluss hinzu, sie zur Ehrenbürgerin der Stadt Wien zu ernennen. Die höchste Auszeichnung der Literaturwelt erfolgte jedoch überraschend: 2004 wurde sie von der Schwedischen Akademie für den „musikalischen Fluss von Stimmen und Gegenstimmen“ in ihren Werken, in denen sie „die Absurdität gesellschaftlicher Klischees und ihrer unterjochenden Macht“ offenlegt, mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Den Preis nahm sie nicht persönlich entgegen, ihre „Im Abseits“ betitelte Preisrede schickte sie per Video. Der Nobelpreis habe sie „vollkommen und endgültig von der menschlichen Gesellschaft abgeschlossen“, sagte sie ein Jahr danach. „Ich finde das aber nicht so schlecht. Jetzt fühle ich mich frei.“

Jelinek fühlt sich frei zu schreiben, was, wann und wie sie will, ihr bevorzugtes Publikationsorgan ist seit langem ihre Homepage. Hier nimmt sie regelmäßig Stellung zu den Themen der Zeit, hier publizierte die in Wien und München lebende Autorin auch ihren „Neid“-Roman und bietet eigene pdf-Download-Versionen für unterschiedliche Devices an. Verlässlich ist sie die erste, die aktuelle Themen mit ihrem „Fluss von Stimmen und Gegenstimmen“ umspült und dabei von den Antiken Dramatikern bis zu deutschen und französischen Philosophen immer wieder zu den gleichen Quellen zurückgeht. „Es ist kein Wollen, sondern ein Müssen; ich bin eine Triebtäterin“, kommentierte sie in einem APA-Interview einmal ihren Schreibzwang, den sie selbst in ihren Texten häufig ironisiert. Dass sie den Regisseurinnen und Regisseuren mit ihren Textflächen ohne Rolleneinteilung gänzlich freie Hand lässt, sorgt nicht nur für Abwechslung, sondern auch für Beliebtheit in den Theatern. Kaum ein Jahr vergeht ohne Einladung eines Jelinek-Stücks zu den Mülheimer Theatertagen oder ohne Wahl zum „Stück des Jahres“ in der Kritikerumfrage von „theater heute“.

Elfriede Jelinek wurde - wiewohl Tochter eines in Wien lebenden Ehepaares - am 20. Oktober 1946 in Mürzzuschlag in der Steiermark geboren. Ihre „ungemein leistungsbezogene“ Mutter habe sie zum Wunderkind „dressieren“ wollen, erklärte Jelinek einmal. Mit sechs Jahren begann sie ihren Klavierunterricht und übte schon bald an einem eigens angeschafften Steinway-Flügel. Mit 13 wurde sie jüngste Schülerin in der Musikhochschule und begann ein Orgelstudium. Später lernte sie auch Bratsche und Gitarre, mit 16 auch noch Komposition.

Nach der Matura, die sie an einer Klosterschule ablegte, studierte sie am Wiener Konservatorium Klavier und Komposition, belegte daneben aber auch Sprachen, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Aus der für sie von der dominanten Mutter Ilona Jelinek, die bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 großen Einfluss auf das Leben ihrer Tochter hatte und wohl in „Die Klavierspielerin“ verewigt wurde, geplanten Musikerinnenkarriere wurde dennoch nichts, Elfriede Jelinek wurde Autorin. Noch als Studentin veröffentlichte sie 1967 ihren ersten Gedichtband „Lisas Schatten“.

Sowohl ihr Romandebüt „wir sind Lockvögel, baby“ (1970) als auch die Romane „Die Ausgesperrten“ (1980) und „Die Klavierspielerin“ (1983) begeisterten die Kritiker, stießen jedoch in gleichem Maße auf heftigen Widerstand. In ihrer literarischen Arbeit übt Jelinek immer wieder scharfe Kritik an der Männer- und Klassengesellschaft und setzt sich kritisch mit den Themen Sexualität, Gewalt und Macht auseinander. Aufsehen, Neugier und Widerspruch erregte besonders der Roman „Lust“ (1989). Als ihr „opus magnum“ bezeichnet sie selbst „Die Kinder der Toten“ (1995). Im Jahr 2000 erschien „Gier“, ein vieldeutiger Kriminalroman aus der österreichischen Provinz. Ihren bisher letzten Roman „Neid“ (2008) veröffentlichte sie im Internet. Ausgedruckt umfasst er 936 Seiten.

„Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft“ war 1979 das erste Theaterstück Elfriede Jelineks. Es folgten „Clara S.“ (1982), „Burgtheater“ (1985), „Krankheit oder Moderne Frauen“ (1987) und „Wolken. Heim“ (1988), eine Montage aus Texten von Hölderlin, Kleist, Fichte, Hegel, Heidegger und Auszügen aus Briefen der RAF-Häftlinge. Um Fremdenfeindlichkeit, Heimat und Intoleranz gegenüber anderen ging es auch in ihrem szenischen Essay „Totenauberg“ (1992), der ebenso wie „Raststätte oder Sie machen‘s alle“ (1994), „Stecken, Stab und Stangl“ (1996) und „Ein Sportstück“ (1998) am Burgtheater uraufgeführt wurde.

Zunehmend wurde Elfriede Jelinek mit ihrer Verweigerung von klassischer Dramaturgie und der Entwicklung von monologartigen Textflächen zur Herausforderung der Theater, die mit immer größerer Begeisterung angenommen wurde. Zu Jelineks wichtigsten Regisseuren wurden Christoph Schlingensief („Bambiland“), Jossi Wieler („Macht nichts“, „Rechnitz (Der Würgeengel)“) und vor allem Nicolas Stemann („Das Werk“, „Babel“, „Ulrike Maria Stuart“, „Die Kontrakte des Kaufmanns“, „Wut“ u.a.). Ihr jüngstes Stück „Lärm. Blindes Sehen. Blinde sehen!“ wurde von so unterschiedlichen Regie-Handschriften wie jene von Karin Beier (in Hamburg) und Frank Castorf (in Wien) auf die Bühne gebracht.

Ihr Bestseller „Lust“ (1989), die Uraufführungen ihrer Porno-Satire „Raststätte oder Sie machen‘s alle“ durch Claus Peymann (1994) und von „Ein Sportstück“ durch Einar Schleef (1998) sowie die Verfilmung ihres 1983 erschienenen Romans „Die Klavierspielerin“ durch Michael Haneke fanden weit über die Grenzen des Literatur- und Theaterbetriebs Beachtung. Zeitungen (wie die „Kronen Zeitung“) und politische Gegner (die FPÖ plakatierte 1995 sogar den Slogan „Lieben Sie Scholten, Jelinek, Häupl, Peymann, Pasterk... oder Kunst und Kultur?“) griffen Elfriede Jelinek immer wieder an. Zumindest bei der FPÖ hat sich am Abwehrreflex nichts geändert. Mit Jelinek werde eine deklarierte „Österreich-Hasserin“ geehrt, befand der Kultursprecher der FPÖ Wien, Stefan Berger, anlässlich der Zuerkennung der Wiener Ehrenbürgerschaft. Zudem sei Jelinek während des Kalten Krieges Mitglied der KPÖ gewesen, „in einer Zeit in der diese die Tochtervereinigung der KPdSU war“. Wer sich mit Kommunismus, Unterdrückung, Freiheitsentzug und dem Tod unschuldiger Menschen identifiziere, disqualifiziere sich.

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