„Fleckenverlauf“: Terezia Moras literarische Werkbank

Für eine Schriftstellerin sind persönliche Alltagsnotizen nicht einfach ein Tagebuch. Nicht Hobby, sondern Job. „Ein Tage- und Arbeitsbuch“ nennt Terezia Mora ihre Aufzeichnungen, die sie über sieben Jahre als persönlichen Einblick in ihre literarische Werkbank geschrieben hat und die unter dem Titel „Fleckenverlauf“ nun bei Luchterhand erschienen sind. Es ist Moras persönlichstes Buch bisher, aber wie alle anderen: genau erschaut, fein artikuliert, stets melancholisch.

Ein Tagebuch ist heute sowieso nicht einfach ein Tagebuch, sondern normalerweise ein Blog - so war es 2014 auch bei Terezia Mora. Nach kurzer Zeit entschied sie sich jedoch, den Blog für die Öffentlichkeit zu schließen, sich selbst einen siebenjährigen Dokumentationszeitraum bis zu ihrem 50. Geburtstag aufzuerlegen und ihre Notizen nach Ablauf dieser Phase in Buchform zu veröffentlichen. Sie nutzte die Aufzeichnungen, um Material zu sammeln, Zufallsbeobachtungen, Glücksmomente, Geschichten, die man ihr erzählt hat, Bild- und Gedankenfunde vom morgendlichen Heimweg, nachdem das Kind zur Schule gebracht wurde. Material, das später Eingang in Geschichten finden wird, in den Erzählband „Die Liebe unter Aliens“ und in den dritten Roman der Darius-Kopp-Serie, „Auf dem Seil“.

Wer Moras Belletristik kennt, fühlt sich hier mitunter wie Alice hinter dem Spiegel. Ihre Figuren sind wieder da, nicht als Teil einer fiktiven Welt, sondern als wirksame Akteure in einer zutiefst mit der Alltagsrealität verwobenen Prosa. Sie haben Interessen und Eigenschaften, die ihre Autorin wie unfreiwillig umtreiben. Doch ebenso wie ihre literarischen Texte oszillieren diese Notizen zwischen Poesie und Lakonie, zwischen den Höhenflügen der Weltliteratur und den Mühen der schriftstellerischen Ebene: niedrige Honorare, umständliche Reisen, nervende Krankheiten, Lärm aus der Küche, Zeitnot.

Weil die aus Sopron stammende, schon lange in Berlin lebende Mora nicht nur preisgekrönte Autorin ist - für „Auf dem Seil“ erhielt sie den Deutschen Buchpreis, für das Gesamtwerk den Büchner-Preis - sondern auch eine der wichtigsten Übersetzerinnen aus dem Ungarischen, bekommt man ganz nebenbei auch viel Einblick in das ungarische Geistesleben, sei es literarisch, sei es in der Welt der Blogs, aus denen Mora viel zitiert. Mit welcher Selbstverständlichkeit und sicherer Hand sie soziale Medien als Quelle benutzt und die allgegenwärtige zeitgenössische Praxis der Selbstdarstellung, der collagierten öffentlichen Privatheit für sich in Buchform in Anspruch nimmt, unterstreicht Moras ungewöhnliche Fähigkeit, der Gegenwart auf den Puls zu fühlen.

Mitunter auch unfreiwillig: Über Jahre ersinnt sie eine - durchaus mit ihren eigenen Merkmalen versehene - Figur, die als Einsiedlerin nicht mehr die Wohnung verlässt. Nur um dann, ganz am Ende des nach Ablauf von sieben Jahren planmäßig endenden, wenn auch nicht abgeschlossenen Bandes, im März 2020, in ihren Fantasien und Idealisierungen von der Corona-Pandemie überholt zu werden. Das Schicksal, ein Corona-Tagebuch zu werden, ist „Fleckenverlauf“ damit glücklicherweise erspart geblieben.

(S E R V I C E - Terezia Mora: „Fleckenverlauf. Ein Tage- und Arbeitsbuch“, Luchterhand Verlag, 288 Seiten, 22,70 Euro.)

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