Ukraine sieht weiter Bedrohung durch Russland
Trotz diplomatischer Bemühungen sieht Kiew weiter eine potenzielle Bedrohung angesichts des Aufmarschs russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. „Die Lage ist unverändert, wir sehen keine Anzeichen eines Rückzugs“, sagte am Dienstag Außenminister Dmytro Kuleba nach einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Österreich (Alexander Schallenberg), aus der Slowakei (Ivan Korcok) und Tschechien (Jan Lipavsky) in Kiew. Diese unterstrichen unisono ihre Solidarität mit der Ukraine.
Ziel Moskaus sei es, sein Land zu destabilisieren, sagte Kuleba. „Russland will keine starke Ukraine. Wir sind offen für einen Dialog, aber gewisse rote Linien könne nicht überschritten werden.“ Die drei - im „Slavkov-Format“ angereisten - Außenminister unterstrichen in diesem Zusammenhang, dass die Ukraine freie Wahl habe, sich in Richtung Westen zu orientieren. Der tschechische Außenminister Lipavsky formulierte: „Die Ukraine muss selbst auswählen, ob sie sich der EU und der NATO anschließen will.“ Dies dürfe von Russland nicht infrage gestellt werden. Kuleba unterstrich, dass beispielsweise ein EU-Beitritt nach wie vor angestrebt werde. „Auch wenn wir wissen, dass das ein schwieriger Prozess ist.“
Auch Schallenberg (ÖVP) sprach von einem militärischen Bedrohungspotenzial, wie es in Europa schon länger nicht mehr gegeben gewesen sei. Man dürfe das Rad der Zeit aber nicht zurückdrehen, meinte der Minister, „im 21. Jahrhundert dürfen Grenzen nicht mehr mit Panzern niedergewalzt werden“. Daher werde mit dem gemeinsamen Besuch ein „zentraleuropäisches Signal“ von Support und Solidarität für die Integrität der Ukraine gesetzt. „Das ist auch in unserem Interesse. Wir teilen denselben Kulturraum. Die Sicherheit und die Stabilität der Ukraine ist auch die unsere.“
Bezüglich der Ankündigung von US-Präsident Joe Biden, dass im Fall einer russischen Invasion die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream II „tot“ sei, hoffte der ukrainische Außenminister auf weitgehenden Konsens innerhalb der EU. Schallenberg meldete Zweifel an, ob es sinnvoll sei, ein Projekt in den Mittelpunkt möglicher Sanktionen zu stellen, das noch nicht einmal zertifiziert sei. Man könne nicht Druck machen, „mit einem Auto, das noch nicht einmal einen Motor hat“, argumentierte der Außenminister.
Er unterstrich aber, dass in der EU an einem „massiven Paket“ gearbeitet werde, das im Fall einer russischen Aggression zu Sanktionszwecken zum Einsatz komme. „Das reicht von Hochtechnologie über den Warenverkehr bis zum Finanzsektor.“ Auch Österreich werde sich daran beteiligen, selbst wenn es wegen der guten Handelsbeziehungen zu Russland als auch der Ukraine keine Freude an solchen Entwicklungen habe. „Wenn es sein muss, werden wir aber diesen Weg gehen.“
Zuvor hatte das Trio Ministerpräsident Denys Schmyhal getroffen, am Nachmittag stand ein Gespräch mit Präsident Wolodymyr Selenskyj auf dem Programm. Die gemeinsame Reise der drei Außenminister im „Slavkov-Format“ solle „die enge Verbundenheit unserer Länder mit der Ukraine“ zeigen, hieß es. Das „Slavkov-“ oder „Austerlitz-Format“ ist eine Initiative zur Stärkung der Kooperation zwischen Österreich, Tschechien und der Slowakei. Die Drei-Länder-Gruppe war Ende Jänner 2015 in Slavkov (Austerlitz) gegründet worden - in jenem Ort in Südmähren, nach dem die legendäre Drei-Kaiser-Schlacht 1805 benannt wurde.
Kuleba bedankte sich bei Tschechien für die Lieferung von 4.000 Artilleriegeschoßen im Wert von 1,5 Millionen Euro und zeigte Verständnis, dass Österreich als neutrales Land derartige Schritte nicht setzen könne. Er hoffe aber dennoch auf andere Hilfe, etwa wirtschaftlicher Natur.
Schallenberg versicherte, dass der Ministerrat in Wien noch im Februar die Auszahlung von 2,5 Millionen Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds des Außenministeriums beschließen werde. Im Rahmen des EU-Zivilschutz-Mechanismus übergab Schallenberg zudem am Dienstag noch 42 Paletten mit Hilfsmitteln, darunter fünf Diesel-Generatoren und 28 Wassertanks mit einem Fassungsvermögen von jeweils 1.000 Litern. Auch Tschechien und die Slowakei kündigten Unterstützung für das ukrainische Rote Kreuz und NGOs an.
Am Montag hatten die drei Außenminister die sogenannte Kontaktlinie zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den von Russland unterstützten Separatisten im Konfliktgebiet Donbass bei Luhansk besucht. Der Westen ist angesichts eines massiven russischen Truppenaufmarsches in der Nähe der Ukraine alarmiert. Russland seinerseits fordert Sicherheitsgarantien dafür, dass sich die NATO nicht Richtung Osten erweitert. Das Militärbündnis hält jedoch an der Beitrittsperspektive fest. Zuletzt hatten diverse Truppenverschiebungen - sowohl von russischer als auch von US-Seite - für einen Anstieg der Unruhe gesorgt.
In Kiew herrscht daher derzeit überhaupt rege diplomatische Betriebsamkeit. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock weilte ebenfalls in der Ukraine, besuchte am Dienstag auch die Donbass-Region. Am Dienstag stieß auch der französische Amtskollege Jean-Yves Le Drian dazu. Er ist mit Präsident Emmanuel Macron unterwegs, der nach einem Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag auch mit dem Amtskollegen Selenskyj in Kiew beraten will. Außenminister Kuleba erklärte dazu bei der Pressekonferenz, er sei schon neugierig, ob Macron eine Botschaft aus Moskau mitgebracht habe. Frankreich hat derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne. Am Mittwoch folgt Polens Außenminister Zbigniew Rau, aktuell auch Vorsitzender der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE).
Auch seitens politischer Beobachter wird das aktuelle Szenario als durchaus besorgniserregend angesehen. Selbst 2014, als Russland letztlich die Halbinsel Krim besetzte, sei die Rhetorik in Moskau nicht so aggressiv geworden, heißt es in Kiew. Dabei sei ein großer Teil der Bevölkerung auf der Krim damals auch aufgrund des Einflusses der russisch-orthodoxen Kirche tatsächlich sehr positiv gegenüber Russland eingestellt gewesen. Das sei derzeit nicht einmal in den separatistisch verwalteten Zonen im Donbass der Fall. Daher könnten im Fall der Donbass-Gebiete etwa UNO-Peacekeeper und eine Übergangsverwaltung zum Einsatz kommen.
Allerdings dürfe auch eine potenzielle Bedrohung seitens Belarus nicht außer Acht gelassen werden. Der weißrussische Präsident Alexander Lukaschenko agiere zunehmend wie ein „Verrückter“, formulierte Anatolij Oktysjuk von der NGO Democracy House im Gespräch mit österreichischen Journalisten in Kiew. Ein Szenario könnte etwa ein von Belarus provozierter Konfliktfall sein, in dessen Folge Russland sich dann mit „Friedenstruppen“ einbringt.
Auf jeden Fall sei die Ukraine für einen russischen Angriff gerüstet, meinte Oktysjuk. „Wir können sie stoppen.“ Eine Ansicht, die auch von Außenminister Kuleba vertreten wird. „Wir haben seit 2014 dazugelernt.“ Im Grunde sei der Westen aber alarmierter als die Ukrainer selbst. Sie seien derartige Bedrohungen schon gewohnt. Von einem neutralen Land wie Österreich erwarte sich die ukrainische Bevölkerung auch keine militärische Unterstützung, formulierte indes auch Mykola Bjeljeskow, der auch für das Nationale Institut für Strategische Studien arbeitet. Aber es sollte eine klare „makroökonomische Unterstützung“ geben.