Ukraine sieht weiter Bedrohung durch Russland
Trotz diplomatischer Bemühungen sieht Kiew weiter eine potenzielle Bedrohung angesichts des Aufmarschs russischer Truppen an der Grenze zur Ukraine. „Die Lage ist unverändert, wir sehen keine Anzeichen eines Rückzugs“, sagte am Dienstag Außenminister Dmytro Kuleba nach einem Treffen mit seinen Amtskollegen aus Österreich (Alexander Schallenberg), aus der Slowakei (Ivan Korcok) und Tschechien (Jan Lipavsky) in Kiew. Diese unterstrichen unisono ihre Solidarität mit der Ukraine.
Ziel Moskaus sei es, sein Land zu destabilisieren, erklärte Kuleba. „Russland will keine starke Ukraine. Wir sind offen für einen Dialog, aber gewisse rote Linien könne nicht überschritten werden.“ Die drei - im „Slavkov-Format“ angereisten - Außenminister, die auch den ukrainischen Regierungschef Denys Schmyhal trafen, unterstrichen in diesem Zusammenhang, dass die Ukraine freie Wahl habe, sich in Richtung Westen zu orientieren. Der tschechische Außenminister Lipavsky formulierte: „Die Ukraine muss selbst auswählen, ob sie sich der EU und der NATO anschließen will.“ Dies dürfe von Russland nicht infrage gestellt werden. Kuleba unterstrich, dass beispielsweise ein EU-Beitritt nach wie vor angestrebt werde. „Auch wenn wir wissen, dass das ein schwieriger Prozess ist.“
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wünschte sich sogleich von EU-Seite eine klare Perspektive für die Beitrittsaspirationen seinen Landes. Das berichtete Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) am Dienstagabend zum Abschluss seines Ukraine-Besuchs nach einem Treffen mit Selenskyj. Zudem zeigte sich der Präsident laut Schallenberg um die ökonomische Situation seines Landes besorgt.
Seit dem Beginn der aktuellen Krise mit dem Aufmarsch russischer Truppe an der Grenze habe eine Kapitalflucht aus der Ukraine begonnen. Seit Anfang November seien derart zwölf Milliarden Euro verloren gegangen. Es seit daher auch im Interesse Europas, die Wirtschaft der Ukraine zu stärken. Sonst könnte auch eine Auswanderungswelle einsetzen.
Selenskyj dankte Österreich im Gespräch mit Schallenberg und dessen Amtskollegen aus der Slowakei und Tschechien auch explizit dafür, sein Botschaftspersonal nicht abzuziehen. Das sei ein Signal der Solidarität. Zuvor hatte in Diplomatenkreisen in Kiew die Nachricht die Runde gemacht, dass die USA, Kanada und Großbritannien angesichts steigender Spannungen Teile ihres Botschaftspersonals („Non essential staff“) nach Lwiw (Lemberg) verlegen. Schallenberg hatte daraufhin umgehend klargestellt, Österreich werde diesem Beispiel nicht folgen. Gegenüber österreichischen Journalisten hielt Schallenberg fest: „Wir halten hier die Stellung, unsere Augen und Ohren bleiben in Kiew“.
Zuvor hatte Schallenberg von einem militärischen Bedrohungspotenzial gesprochen, wie es in Europa schon länger nicht mehr gegeben gewesen sei. Man dürfe das Rad der Zeit aber nicht zurückdrehen, meinte der Minister, „im 21. Jahrhundert dürfen Grenzen nicht mehr mit Panzern niedergewalzt werden“. Daher werde mit dem gemeinsamen Besuch ein „zentraleuropäisches Signal“ von Support und Solidarität für die Integrität der Ukraine gesetzt. „Das ist auch in unserem Interesse. Wir teilen denselben Kulturraum. Die Sicherheit und die Stabilität der Ukraine ist auch die unsere.“
Am Montag hatten die drei Außenminister die sogenannte Kontaktlinie zwischen ukrainischen Regierungstruppen und den von Russland unterstützten Separatisten im Konfliktgebiet Donbass bei Luhansk besucht. Der Westen ist angesichts eines massiven russischen Truppenaufmarsches in der Nähe der Ukraine alarmiert.
In Kiew herrscht daher derzeit überhaupt rege diplomatische Betriebsamkeit. Deutschlands Außenministerin Annalena Baerbock weilte ebenfalls in der Ukraine, besuchte am Dienstag auch die Donbass-Region. Am Dienstag stieß auch der französische Amtskollege Jean-Yves Le Drian dazu. Er ist mit Präsident Emmanuel Macron unterwegs, der nach einem Besuch beim russischen Präsidenten Wladimir Putin am Montag auch mit seinem Amtskollegen Selenskyj in Kiew beriet. Nach dem Treffen rief Macron alle Seiten dazu auf, sich zu beruhigen und erklärte, eine Deeskalation der Krise sei möglich.
Auch seitens politischer Beobachter wird das aktuelle Szenario als durchaus besorgniserregend angesehen. Selbst 2014, als Russland letztlich die Halbinsel Krim besetzte, sei die Rhetorik in Moskau nicht so aggressiv geworden, hieß es dazu in Kiew.