Russische Truppen in Millionenstadt Charkiw eingedrungen

Vier Tage nach Beginn des russischen Angriffskriegs hat es am Sonntag einen ersten großen Rückschlag für die ukrainische Armee gegeben. Russischen Soldaten ist es nämlich in der Früh gelungen, ins Zentrum der Millionenstadt Charkiw im Nordosten des Landes einzudringen. Die russischen Streitkräfte meldeten einem Medienbericht zufolge zudem die „vollständige Blockade“ der südukrainischen Städte Cherson und Berdjansk.

„Es gibt einen Durchbruch im Zentrum der Stadt“, teilte die Stadtverwaltung von Charkiw nach Angaben des Onlinemediums „Kyiv Independent“ mit. Die Bewohner der Stadt wurden aufgerufen, in ihren Häusern bzw. Schutzräumen zu bleiben. Der Gouverneur der Region, Oleh Sinegubow, erklärte, ukrainische Streitkräfte versuchten, die russischen Soldaten zurückzudrängen.

Den Behördenangaben zufolge hatten die Eindringlinge nur „leichte Ausstattung“. Auf Videos, die von dem Innenministeriumsberater Anton Heraschtschenko und dem staatliche Dienst für Sonderkommunikation und Informationsschutz im Internet veröffentlicht wurden, waren mehrere leichte Militärfahrzeuge auf einer Straße und ein brennender Panzer zu sehen. Der Durchbruch ereignete sich nach einer Nacht heftiger Kämpfe um die zweitgrößte Stadt der Ukraine. In der Nähe Charkiws war dabei auch eine Gaspipeline explodiert. Sie soll von der russischen Armee in die Luft gejagt worden sein.

Darüber, dass die ukrainischen Truppen in Cherson und Berdjansk eingekesselt worden seien, berichtete die russische Agentur RIA Nowosti unter Berufung auf das russische Verteidigungsministerium. Zuvor hatte es schon geheißen, russischen Einheiten sei in Cherson nach erbitterten Kämpfen ein Vorstoß gelungen. Zudem hätten russische Truppen demnach die Stadt Henitschesk und einen Flughafen in der Nähe von Cherson eingenommen.

Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow hatte nur kurz vor Bekanntwerden des Durchbruchs in Charkiw den Soldaten Mut zugesprochen. „Die Dunkelheit wird zurückweichen. Die Morgendämmerung ist nahe“, schrieb er am Sonntag in der Früh auf Facebook. Resnikow sprach von „drei Tagen, die unser Land und die Welt für immer verändert haben“. Dabei sei es den Russen nicht gelungen, wie geplant Kiew zu erobern. „Stattdessen sehe ich eine heldenhafte Armee, eine siegreiche Wache, furchtlose Grenzwächter, engagierte Retter, zuverlässige Polizisten, unermüdliche medizinische Engel.“

Die Ukraine erwarte nunmehr Hilfe, die vor drei Tagen nicht möglich schien, sagte er in Anspielung auf die am Samstag angekündigten Waffenlieferungen mehrerer westlicher Staaten, darunter auch Deutschland. In der Nacht hatte die Armee mitgeteilt, es gebe russische Angriffe „aus allen Richtungen“, denen aber „entschlossener Widerstand“ entgegengesetzt werde.

„Es ist ruhig im Zentrum von Kiew. Am ruhigsten seit dieser Vollidiot in Moskau den Krieg erklärt hat“, schrieb der frühere Botschafter in Österreich, Olexander Scherba, am Sonntag in der Früh auf Twitter. Später gab es jedoch Luftalarm, wenige Minuten später war eine Explosion westlich des Stadtzentrums, wie ein Reuters-Reporter berichtete. Etwa 20 Minuten später waren zwei weitere Explosionen zu hören.

Die ukrainischen Streitkräfte zogen zur Verteidigung der Hauptstadt weitere Kräfte zusammen. Es gehe vor allem um die Abwehr des russischen Angriffs im Norden und im Nordwesten der Hauptstadt, schrieb Vize-Verteidigungsministerin Hanna Maljar am Sonntag bei Facebook. Im ganzen Land laufe die Mobilisierung. Die Luftwaffe habe russische Kampfjets und Transportmaschinen über Kiew abgefangen, im Süden habe die Marine eine russische Landung vereitelt.

Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs geht der russische Angriff weiter, allerdings sei das Tempo deutlich gebremst worden. Der Feind habe Nachschubprobleme bei Treibstoff und Munition, teilte die Armeeführung auf Facebook mit. Die russischen Soldaten, bei denen es sich vor allem um junge Rekruten handle, seien erschöpft wegen der vorangegangenen Manöver. Moral und psychologischer Zustand seien schlecht. Es gebe erste Berichte über Desertionen von Soldaten, die sich weigerten, gegen die Ukraine zu kämpfen. Einige Gefangene sagten ukrainischen Medien zufolge, sie seien für ein Manöver abkommandiert gewesen und hätten sich dann in einem Krieg wiedergefunden. Überprüfbar war das nicht.

Die russischen Truppen hätten schwere Verluste erlitten, teilte der Generalstab weiter mit. Bisher seien mehr als 3.000 Soldaten getötet und mehr als 200 gefangen genommen worden. 16 Flugzeuge und 18 Hubschrauber seien zerstört worden, ebenso mehr als 100 Panzer und Hunderte weitere Militärfahrzeuge.

Die ukrainische Führung warf Russland Kriegsverbrechen vor. Zivile Infrastruktur in großen Städten werde absichtlich zerstört, Zivilisten würden getötet. Russland weist das entschieden zurück. Russische Truppen haben nach ukrainischen Angaben „unter Missachtung der Normen des humanitären Völkerrechts“ ein Öldepot nahe Kiew und eine Gasleitung in der zweitgrößten Stadt Charkiw zerstört. Die Angaben sind nicht unabhängig zu überprüfen.

Im Kiewer Vorort Wassylkowo wurde nach Medienberichten eine Raffinerie von Raketen getroffen und in Brand gesetzt. Das Feuer war auch nach Stunden von Kiew aus zu sehen. Die Behörden riefen die Bewohner auf, ihre Fenster zum Schutz vor giftigen Dämpfen zu schließen. Einem Fernsehbericht zufolge wurde bei den Kämpfen auch ein Lager mit radioaktiven Abfällen in Kiew getroffen. Ersten Messungen zufolge bestand aber keine Bedrohung für die Bevölkerung außerhalb der Schutzzone.

Auch in der Region Luhansk in der Ostukraine tobten demnach schwere Kämpfe. Dort meldeten die Separatisten, dass eine ukrainische Rakete ein Ölterminal in der Stadt Rowenky getroffen habe. Die Angaben ließen sich nicht von unabhängiger Seite überprüfen.

Die ukrainische Armee rief die Bevölkerung auf, den russischen Vormarsch mit allen Mitteln zu stoppen, etwa durch Barrikaden aus Bäumen und Molotow-Cocktails. Die ukrainische Straßenverwaltung rief zudem dazu auf, alle Straßenschilder und Ortstafeln im Land abzumontieren, um die Invasoren zu verwirren.