Bereits mehr als 2.100 Bewohner von Mariupol getötet

In der von russischen Truppen belagerten südostukrainischen Hafenstadt Mariupol sind laut Stadtverwaltung seit Beginn der russischen Offensive bereits 2.187 Einwohner getötet worden. Die russischen „Besatzer greifen zynisch und absichtlich Wohngebäude und dicht bevölkerte Gebiete an und zerstören Kinderkrankenhäuser und städtische Einrichtungen“, hieß es am Sonntag auf Telegram. Eine Evakuierung scheiterte erneut. Rund um Kiew gab es am 18. Tag der Invasion heftige Gefechte.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) berichtete von katastrophalen Bedingungen für die noch rund 300.000 in Mariupol eingeschlossenen Zivilisten. Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen warnte vor einer „unvorstellbaren Tragödie“. Die Stadt liegt etwa 55 Kilometer von der russischen Grenze und 85 Kilometer von der Separatistenhochburg Donezk entfernt. 2014 hatten pro-russische Separatisten die Hafenstadt kurzzeitig besetzt, bevor sie von der ukrainischen Armee zurückerobert wurde. Sollte Mariupol nun fallen, würde dies den Zusammenschluss der russischen Truppen mit Einheiten aus der Krim und dem Separatistengebiet im Donbass ermöglichen.

Es sei wieder nicht gelungen, Mariupol zu erreichen, sagte Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk. Der Konvoi mit Hilfsgütern für die Stadt und zur Evakuierung von Zivilisten sei in Berdjansk geblieben, weil es Luftangriffe auf Mariupol gegeben habe. „Aber morgen in der Früh versuchen wir es noch einmal“, kündigte sie an. Bisher war noch kein Versuch erfolgreich, Hilfsgüter in die umkämpfte Stadt am Asowschen Meer zu transportieren und Einwohner herauszuholen. Die russische und die ukrainische Seite geben sich gegenseitig die Schuld daran.

An anderen Orten seien Fluchtkorridore hingegen erfolgreich gewesen, sagte Wereschtschuk. Unter anderem aus Sjewjerodonezk und Lyssytschansk im ostukrainischen Gebiet Luhansk sowie aus Irpin und Butscha nordwestlich der Hauptstadt Kiew seien insgesamt 7.000 Menschen in Sicherheit gebracht worden.

Erstmals im Ukraine-Krieg verübte Russland einen folgenreichen Raketenangriff in unmittelbarer Nähe der polnischen Grenze. Am Sonntag starben mindestens 35 Menschen bei der Attacke auf einen Truppenübungsplatz unweit der Stadt Lwiw. 134 weitere wurden nach ukrainischen Angaben verletzt. Dabei könnte es sich um einen gezielten Schlag auf einen der Verteilungspunkte für ankommende Waffenlieferungen aus dem Westen an die Ukraine gehandelt haben, betonte Oberst Markus Reisner, Leiter der Entwicklungsabteilung der Theresianischen Militärakademie, gegenüber der APA. „Dafür spricht der Einsatz einer hohen Anzahl an seegestützten präzisen Marschflugkörpern.“

Das russische Verteidigungsministerium sprach später davon, dass man „bis zu 180 ausländische Söldner“ sowie eine große Menge aus dem Ausland gelieferter Waffen „zerstört“ habe. „Die Vernichtung der auf das Territorium der Ukraine eingereisten ausländischen Söldner wird fortgesetzt“, sagte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow laut Agentur TASS. Kiew widersprach dieser Darstellung. „Das ist nicht wahr. Das ist pure russische Propaganda“, sagte der Sprecher des ukrainischen Verteidigungsministeriums, Markijan Lubkiwskyj, dem US-Sender CNN. Das US-Verteidigungsministerium betonte nochmals, dass die Vereinigten Staaten und die Bündnispartner das Gebiet der NATO-Staaten im Angriffsfall verteidigen werden.

Nach Meinung von Oberst Reisner zeigt „die hohe Anzahl der (bei Lwiw) verwendeten Raketen, dass die Russen sicher sein wollten, das Ziel zu zerstören“. Betrachte man die Verbindungsstraßen aus Polen in Richtung Lwiw, so falle auf, dass Jaworiw „verkehrstechnisch optimal für die Anlieferung der Waffen liegt“. „Hier können die Transporte aus Polen umgeladen werden und in kleinen Mengen weiterverbracht werden.“

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Der Übungsplatz Jaworiw ist nur rund 15 Kilometer von der Grenze zu Polen entfernt. Auf ihm waren zumindest vor dem Krieg viele NATO-Ausbilder aktiv. Videos und Fotos zeigten schwere Zerstörungen. Gebietsgouverneur Maxim Kozitsky zufolge wurden mehr als 30 Raketen abgefeuert. Der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow forderte nach dem Angriff erneut eine Flugverbotszone über dem Land.

Rund um die ukrainische Hauptstadt gab es nach ukrainischen Angaben heftige Kämpfe in den Ortschaften Irpin und Makariw. Ähnlich sei die Lage auch in anderen Dörfern, die humanitäre Lage werde immer schlechter. Allein am Samstag seien etwa 20.000 Menschen evakuiert worden.

Im Süden sammele sich russisches Militär an der Industriegroßstadt Krywyj Rih mit über 600.000 Einwohnern. Die Angaben waren unabhängig nicht überprüfbar. In der südukrainischen Hafenstadt Mykolajiw wurden nach Angaben des Regionalgouverneurs Witali Kim am Sonntag mindestens neun Menschen bei Luftangriffen getötet.

Die NATO erwartet eine weitere Verschärfung der Kämpfe und der humanitären Notlage. „Wir sehen mit Schrecken die steigenden Zahlen ziviler Opfer und die sinnlose Zerstörung durch die russischen Kräfte“, sagte der Generalsekretär der Militärallianz, Jens Stoltenberg, der Zeitung „Welt am Sonntag“. Die Menschen in der Ukraine widersetzten sich der Invasion mit Mut und Entschiedenheit, „aber die kommenden Tage werden wahrscheinlich noch größere Not bringen“, warnte er.

Stoltenberg lehnte erneut Forderungen ab, die NATO solle eine Flugverbotszone über der Ukraine durchsetzen. Das würde bedeuten, dass russische Kräfte angegriffen werden müssten. „Und damit würde man eine direkte Konfrontation und eine unkontrollierbare Eskalation riskieren. Wir müssen diesen Krieg beenden und ihn nicht noch ausweiten.“ Die NATO sei eine defensive Allianz. „Wir suchen keinen Konflikt mit Russland.“

In der südukrainischen Stadt Melitopol setzte Russland erstmals in einem eroberten Gebiet eine eigene Statthalterin ein. Die Lokalabgeordnete Halyna Daniltschenko rief die Einwohner auf, sich „an die neue Realität“ anzupassen. Zugleich verlangte sie, die Menschen sollten nicht mehr gegen die russischen Besatzungstruppen demonstrieren. Melitopols Bürgermeister Iwan Fedorow war zuvor nach Kiewer Angaben von der russischen Seite verschleppt worden - wie auch der Bürgermeister der Kleinstadt Dniprorudne.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj drohte Kollaborateuren Russlands in der Ukraine mit dem Tod. Wer sich von Angeboten der russischen Besatzer in Versuchung geführt sehe, unterschreibe damit sein eigenes Urteil, sagte er in einer in der Nacht auf Sonntag veröffentlichten Videobotschaft. „Das Urteil lautet, mehr als 12.000 Besatzern zu folgen, die nicht rechtzeitig verstehen konnten, warum die Ukraine nicht angegriffen werden sollte.“ Zuletzt hieß es von ukrainischer Seite, dass mehr als 12.000 russische Soldaten in dem Krieg in der Ukraine getötet worden seien.

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