NATO prüft „erhebliche“ Truppenaufstockung in Osteuropa
NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat den Bündnisstaaten brisante Vorschläge zur erheblichen und dauerhaften Verstärkung der Ostflanke unterbreitet. Laut Diplomaten sind zum Verteidigungsminister-Treffen am Mittwoch vorgelegte Pläne aus russischer Sicht vermutlich nicht mit der NATO-Russland-Grundakte vereinbar. Darin hat sich die NATO unter anderem verpflichtet, auf die dauerhafte Stationierung „substanzieller Kampftruppen“ im östlichen Bündnisgebiet zu verzichten.
Details zu den als geheim eingestuften Vorschlägen wurden zunächst nicht bekannt. Stoltenberg machte am Mittwoch allerdings deutlich, dass Russland nicht erwarten kann, dass sich die NATO noch an alle Vereinbarungen der NATO-Russland-Grundakte aus dem Jahr 1997 hält. Die Grundakte habe einen klaren Bezug zum Sicherheitsumfeld im Jahr 1997, als man Russland noch als strategischen Partner gesehen habe, sagte er. Heute befinde man sich in einem völlig anderen Sicherheitsumfeld, und die NATO werde tun, „was nötig ist“.
Den polnischen Vorstoß für eine „Friedensmission“ der NATO in der Ukraine lehnten die Mitgliedsländer nach Angaben Stoltenbergs ab. „Die Verbündeten sind sich einig, dass die NATO keine Land- oder Luftstreitkräfte in die Ukraine entsenden sollte“, sagte Stoltenberg.
Nach Angaben Stoltenbergs beauftragten die Verteidigungsminister die Militärführung des Bündnisses am Mittwoch damit, Optionen für die Verstärkung der Abschreckung und Verteidigung gegen Russland zu entwickeln. Neben der Stationierung von substanziell mehr Streitkräften im östlichen Teil des Bündnisgebiets ist demnach auch angedacht, die Luft- und Seestreitkräfte unter NATO-Kommando sowie die Fähigkeiten im Bereich der Cyberabwehr und im All zu stärken. „Wir brauchen einen Neustart unserer kollektive Verteidigung und Abschreckung“, sagte Stoltenberg.
Deutschlands Verteidigungsministerin Christine Lambrecht äußerte grundsätzliche Unterstützung für die Planungen für die Ostflanke, machte gleichzeitig aber deutlich, dass der Umfang noch diskutiert werden müsse. „Da muss man sehr genau noch darüber reden, ob diese Größenordnung tatsächlich erforderlich ist“, sagte sie zu den geheimen Vorschlägen von Stoltenberg. Wichtig sei, dass Truppen schnell und ohne lange Vorbereitungszeit verlegt werden könnten
Bisher hat die NATO nur in den baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen sowie in Polen dauerhaft multinationale Verbände stationiert, die normalerweise um 1.000 Soldaten stark sind. Sie wurden zuletzt kurzfristig verstärkt, offen ist aber bislang, wie die Präsenz langfristig aussehen soll.
Die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten hatten Russlands Angriff auf die Ukraine bereits kurz nach dem Beginn als die „seit Jahrzehnten schwerwiegendste Bedrohung für die euro-atlantische Sicherheit“ bezeichnet. Lambrecht sagte am Mittwoch: „Auch wenn es bisher keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass das Bündnisgebiet angegriffen wird, so können wir das nicht gänzlich ausschließen, und wir müssen vorbereitet sein.“ Nach den kurzfristigen Entscheidungen sei es nun wichtig, auch über mittel- und langfristige Planungen zu sprechen. Entscheidungen sollen Ende Juni bei einem Gipfeltreffen in Madrid getroffen werden.
Die NATO-Russland-Grundakte wurde 1997 von beiden Seiten geschlossen und regelt die gegenseitigen Beziehungen, die Zusammenarbeit und die Sicherheit zwischen den NATO-Staaten und Russland. In ihr bekräftigen die NATO-Staaten auch, dass sie nicht die Absicht haben, Atomwaffen bei neuen Bündnismitgliedern zu stationieren. Daran soll sich Angaben von Diplomaten zufolge erst einmal nichts ändern.
Stoltenberg ging am Mittwoch nicht auf das Thema nukleare Abschreckung ein. Er warnte Russland allerdings noch einmal davor, über eine Ausweitung des Krieges gegen die Ukraine nachzudenken. „Moskau sollte keinen Zweifel haben. Die NATO wird keinen Angriff auf die Souveränität oder territoriale Unversehrtheit der Alliierten dulden“, sagte er.
Der Norweger verwies dabei erneut darauf, dass in Reaktion auf den Krieg mittlerweile mehrere Hunderttausend Soldaten aus den Bündnisstaaten in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt wurden. Darunter seien 100.000 US-Soldaten in Europa und rund 40.000 Soldaten unter direktem NATO-Kommando.