Weitere Verhandlungsrunde zwischen Kiew und Moskau
Erstmals seit Beginn des Krieges hat Russland der Ukraine einen Angriff auf das eigene Territorium vorgeworfen. Ukrainische Hubschrauber hätten ein Treibstofflager im Westen Russlands angegriffen und einen Großbrand ausgelöst, so der Gouverneur der Region Belgorod, Wjatscheslaw Gladkow, am Freitag im Messengerdienst Telegram. Beide Seiten setzten ihre Verhandlungen um eine Waffenruhe dennoch fort. In Mariupol wurde jedoch der Versuch zu evakuieren abgebrochen.
Trotz des mutmaßlichen Angriffs in Belgorod wurden die Verhandlungen über eine Waffenruhe wieder aufgenommen. Der Kreml erklärte, der Angriff in Belgorod werde die Verhandlungen über eine Waffenruhe mit Kiew erschweren. „Damit werden natürlich keine günstigen Voraussetzungen für die Fortsetzung der Verhandlungen geschaffen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in Moskau. „Unsere Positionen zur Krim und zum Donbass haben sich nicht verändert“, erklärte der russische Unterhändler Wladimir Medinski auf Telegram.
Wie der Gouverneur der Region schrieb, löste der „Angriff zweier ukrainischer Armeehubschrauber, die in niedriger Flughöhe auf russisches Staatsgebiet vordrangen“, ein großes Feuer in dem Tanklager aus. Zwei Angestellte seien durch das Feuer verletzt worden. Auf einem vom Katastrophenschutzministerium veröffentlichten Video waren gewaltige schwarze Rauchwolken über den Tanks zu sehen. Belgorod liegt nur rund 40 Kilometer von der ukrainischen Grenze und etwa 80 Kilometer von der ukrainischen Stadt Charkiw entfernt, die seit dem Beginn der russischen Offensive massiv attackiert wird.
Das ukrainische Verteidigungsministerium lehnte eine Stellungnahme zu den russischen Vorwürfen ab. Die Ukraine verteidige sich derzeit und könne nicht für „jede Katastrophe auf russischem Territorium“ verantwortlich gemacht haben, sagt ein Ministeriumssprecher. „Ich werde diese Vorwürfe weder bestätigen noch dementieren.“
Der Konvoi des Internationalen Roten Kreuzes, der Einwohner aus Mariupol evakuieren sollte, musste indes umkehren. Die Lage mache es unmöglich, mit dem Hilfseinsatz fortzufahren, heißt es in einer Stellungnahme. In den vergangenen Tagen sind wiederholt geplante Feuerpausen für die Evakuierung von Zivilisten über bestimmte Straßen nicht eingehalten worden. Die humanitäre Lage in der Stadt spitzt sich Tag für Tag zu, Wasser, Lebensmittel und geheizte Räume sind kaum noch verfügbar.
Bisher hat die Beschießung von Mariupol nach Angaben der Stadtverwaltung Schäden in Höhe von mindestens zehn Milliarden Dollar (neun Milliarden Euro) an der Infrastruktur der Hafenstadt verursacht. „Jedes Verbrechen, jeder Mord und jeder vom Aggressor begangene Akt der Zerstörung muss dokumentiert und an den Internationalen Gerichtshof weitergeleitet werden“, forderte Bürgermeister Wadym Boitschenko nach Angaben der Stadtverwaltung.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warnte, Mariupol und weitere Orte im Osten und Süden der Ukraine müssten sich auf noch heftigere Angriffe Russlands einstellen. Dass die russische Regierung angekündigt habe, die Angriffe auf Kiew und Tschernihiw im Norden des Landes zurückzufahren, sei „Teil ihrer Taktik“, sagte Selenskyj in der Nacht auf Freitag in einer Rede. Die russische Armee wolle sich auf andere wichtige Gebiete konzentrieren, „in denen es schwierig für uns sein kann“. Im Donbass, Mariupol und der Gegend um Charkiw seien „gewaltige Angriffe“ zu befürchten.
Auch nach Angaben des Kiewer Bürgermeisters Witali Klitschko kommt es nördlich und östlich der ukrainischen Hauptstadt zu heftigen Kämpfen. „Das Risiko, in Kiew zu sterben, ist ziemlich hoch, und deswegen ist mein Rat an alle, die zurückkommen wollen: Bitte lasst euch ein bisschen länger Zeit“, sagt Klitschko. Zuvor hatte der Gouverneur der Region Kiew gesagt, dass sich die russischen Truppen aus einigen Gebieten zurückzögen, aber ihre Positionen in anderen Orten verstärkten.
Militärexperten zufolge will Russland die Gebiete zwischen dem Donbass und der annektierten Krim-Halbinsel einnehmen. Der erbitterte ukrainische Widerstand in Mariupol ist dabei das Haupthindernis. Der russische Präsident Wladimir Putin erörtert der Agentur Tass zufolge mit Mitgliedern seines Sicherheitsrats zusätzliche Maßnahmen zur „Abwendung und Neutralisierung innerer Sicherheitsbedrohungen“. Details dazu blieben aber offen.
Ukrainischen Angaben zufolge beschoss die russische Armee eine Stadt unweit der Hafen-Metropole Odessa mit Raketen. Die Russen hätten von der 2014 annektierten Schwarzmeer-Halbinsel Krim aus drei Iskander-Raketen abgefeuert, schrieb der Chef der Regionalverwaltung, Maxym Martschenko, am Freitagabend auf Telegram. Es habe Verletzte gegeben. Weitere Details nannte er nicht. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Odessa mit seinem Hafen am Schwarzen Meer gilt als strategisch wichtige Stadt. Am Dienstag war bereits die rund 130 ilometer nordöstlich gelegene Stadt Mykolajiw heftig beschossen worden, die bisher für die russischen Truppen den Landweg nach Odessa blockiert.
Zudem gab es offenbar einen weiteren Gefangenenaustausch. Die russischen Seite habe 71 ukrainische Soldaten und 15 Soldatinnen aus der Kriegsgefangenenschaft freigelassen und dafür ebenso viele eigene Leute übergeben bekommen, schrieb die ukrainische Vize-Regierungschefin Iryna Wereschtschuk am Freitag auf Facebook. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
In den vergangenen Wochen hatte es bereits mehrere Gefangenenaustausche zwischen Ukrainern und Russen gegeben. Mitte März hatte die russische Seite etwa den zwischenzeitlich entführten Bürgermeister der Stadt Melitopol freigelassen - ukrainischen Angaben zufolge im Austausch für neun russische Wehrdienstleistende.