Corona-Pandemie schafft neue Favelas in Brasilien
Zahllose Menschen in Brasilien verlieren wegen des Coronavirus ihren Job und verarmen. In einer neuen Barackensiedlung am Rand der Finanzmetropole Sao Paulo leben bereits 700 Familien, die in der Panemie obdachlos geworden sind.
Von Joshua Howat Berger und Fernando Marron, AFP
Sao Paulo – Mit über 101.000 Toten und drei Millionen Infizierten ist Brasilien inzwischen das am zweitstärksten von der Corona-Pandemie betroffene Land nach den USA. Verantwortlich dafür ist auch die Politik des rechtsradikalen Präsidenten Jair Bolsonaro, der die Krise kleinredet und strikte Schutzmaßnahmen ablehnt, um der Wirtschaft nicht zu schaden.
Nun breitet sich das Virus ungehindert aus, zahllose Menschen verlieren ihren Job und verarmen. In der Finanzmetropole Sao Paulo gibt es bereits eine neue Favela, deren Bewohner zuvor wegen Corona obdachlos geworden sind.
Zu ihnen zählen Priscila Tomas da Silva und ihre Familie. Als ihr Mann wegen der Corona-Ausgangsbeschränkungen in Sao Paulo seinen Job verlor, stand das Paar mit seinen Kindern vor dem finanziellen Abgrund. "Mein Mann war Alleinverdiener", erzählt sie. "Wir konnten die Miete nicht mehr zahlen, weil wir auch noch sechs Kinder zu ernähren haben."
Rund 700 Familien in Sao Paulo obdachlos geworden
Die Familie zog schließlich in eine gerade entstehende Barackensiedlung am nördlichen Stadtrand der Zwölf-Millionen-Metropole. Die Favela im Viertel Jardim Julieta schoss auf einem Lkw-Parkplatz aus dem Boden: Seit vier Monaten strömten fast 700 obdachlos gewordene Familien auf die Brache und errichteten Hütten aus Sperrholz.
Und ständig scheinen weitere Zuzüglinge zu kommen, die Möbel durch die ungepflasterten Gassen tragen. Überall wird gehämmert und gebohrt, werden neue Hütten gebaut, meist ohne Toiletten. Abstand halten ist hier kaum möglich, und auch die mangelnde Hygiene macht die Bewohner anfällig für das Virus.
Im Bundesstaat Sao Paulo, Brasiliens Corona-Epizentrum, fordert die Pandemie hohen wirtschaftlichen Tribut von den Armen: Rund 40 Prozent der Arbeiter im informellen Sektor wie etwa Tagelöhner oder Haushälterinnen verloren wegen der Ausgangsbeschränkungen praktisch über Nacht ihr Einkommen. Viele Länder setzten in der Krise die Räumung von Mietern aus, doch in Brasilien legte Bolsonaro gegen ein entsprechendes Gesetz im Juni sein Veto ein.
Auch Joyce Pinto verlor ihren Job in einem Copyshop, weil sie ihre Tochter nicht mehr in die Kita bringen konnte. "Ich musste mit ihr Zuhause bleiben, und wir hatten Probleme, genügend Geld für die Miete zu verdienen", erzählt die 27-Jährige.
"Der Vermieter begann, mich zu bedrohen", berichtet ihr Mann Gilmar Chaves, ein arbeitsloser Tagelöhner. "Er drohte, ihn und meine Tochter umbringen", fügt Pinto mit Tränen in den Augen hinzu. Also liehen sie Geld für Sperrholz und zogen ebenfalls in die Barackensiedlung. Andere Familie zogen in verlassene Gebäude im Zentrum Sao Paulos.
Entstehung von Favelas immer schon mit Epidemien verbunden
Seit jeher trieben Epidemien Brasiliens Arme in die Slums, sagt Lino Teixeira von der Forschungsgruppe Observatorio de Favelas: "Die Entstehung der Favelas war von Anfang an verbunden mit Epidemien, vom Gelbfieber über die Spanische Grippe bis zu Pocken und Masern".
Doch oft wurden die Menschen auch aus diesen improvisierten Siedlungen wieder vertrieben – und das Jahr 2020 ist da keine Ausnahme: "Wir erleben einen Teufelskreis, in dem Menschen aus den Wohnungen gesetzt werden, weil sie die Miete nicht bezahlen können, woanders Land besetzen und bald darauf wieder vertrieben werden", erklärt Talita Gonzales von der Organisation Observatorio das Remocoes, die sich für das Recht auf Wohnen einsetzt.
In Sao Paulo wurden demnach seit März mehr als 2500 Familien aus ihren Wohnungen vertrieben oder sind von der Räumung bedroht - und das genau zu einem Zeitpunkt, an dem die Behörden die Menschen auffordern, wegen des Coronavirus "daheim zu bleiben", wie der Dauer-Slogan des Rathauses lautet.
Auch für die Favela Jardim Julieta stellten die Behörden Räumungsbescheide zu - die Frist ist eigentlich vor wenigen Tagen bereits abgelaufen. Viele Bewohner wissen nun nicht mehr weiter. "Zumindest haben wir hier ein Dach über dem Kopf", sagt die 42-jährige Luciene dos Santos, eine arbeitslose Frisör-Gehilfin. "Wenn wir hier nicht bleiben können, wohin sollen wir gehen? Dann bleibt uns nur noch ein Leben unter den Brücken, wie so vielen anderen auch."