„Wir gehen nicht zur Arbeit": Polen streiken gegen Abtreibungsverbot
Seit Tagen protestieren Menschen in Polen gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts. Am Mittwoch blieben viele ihrer Arbeit fern. Die nationalkonservative PiS-Regierung hat die Stimmung im Land falsch eingeschätzt – und bemüht nun Verschwörungstheorien.
Warschau – Die Oberbürgermeisterin von Polens drittgrößter Stadt Lodz ging mit eigenem Beispiel voran. „Bin außerhalb des Büros“ schrieb Hanna Zdanowska auf Twitter und postete dazu ein Foto ihres leeren Schreibtischsessels. Viele Frauen, aber auch Männer in ganz Polen taten es ihr am Mittwoch gleich. Aus Protest gegen eine Verschärfung des Abtreibungsrechts blieben sie der Arbeit fern - häufig mit Billigung ihrer Vorgesetzten in Behörden, Universitäten und privaten Unternehmen.
Zu der Aktion mit dem Motto „Wir gehen nicht zur Arbeit“ hatte die Organisation Allpolnischer Frauenstreik aufgerufen. Sie spricht vollmundig von einem „Generalstreik“. Wie viele Arbeitnehmer genau mitmachten, lässt sich zwar nicht überprüfen. Nur soviel steht fest: Viele Polen sind wütend. Seit Tagen gehen sie auf die Straße.
Auslöser für die Proteste ist eine umstrittene Entscheidung des Verfassungsgerichts. In der vergangenen Woche entschieden die Richter, dass Frauen auch dann nicht abtreiben dürfen, wenn ihr Kind schwere Fehlbildungen hat. Ein entsprechender Passus im bisherigen Abtreibungsrecht sei verfassungswidrig. Dies kommt de facto einem Abtreibungsverbot gleich. Denn ohnehin gehört das polnische Abtreibungsrecht schon zu den strengsten in Europa.
📽️ Video | Tausende Protestierende am Dienstag
Derzeit ist ein Abbruch in Polen legal, wenn die Schwangerschaft das Leben oder die Gesundheit der Mutter gefährdet, Ergebnis einer Vergewaltigung ist oder wenn das Ungeborene schwere Fehlbildungen aufweist. Letzteres ist bislang der häufigste Grund für eine Abtreibung, wie die Statistik des Gesundheitsministeriums zeigt. So wurden von den 1110 Abtreibungen, die 2019 in polnischen Kliniken vorgenommen wurden, 1074 mit Fehlbildungen des ungeborenen Kindes begründet. Künftig soll dies nicht mehr möglich sein.
Die Entscheidung ist nicht so sehr eine verfassungsrechtliche wie eine politische. Polens nationalkonservative Regierungspartei PiS hat das Verfassungsgericht längst mit den eigenen Leuten besetzt. PiS-Politiker dringen seit Jahren darauf, Abtreibungen zu verbieten. Kommentatoren in polnischen Medien werfen der Parteiführung vor, sich hinter der Entscheidung der Verfassungsrichter zu verstecken.
Umso mehr trifft die Wut der Demonstranten die PiS – und die katholische Kirche, die auch in Polen durch Missbrauchsskandale an Autorität eingebüßt hat. Landesweit werden Kirchen beschmiert, Gottesdienste gestört und Geistliche beschimpft. Die PiS ist zum Ziel vulgärer Verbalattacken geworden. Auf den Plakaten der Demonstranten zählt das international verständliche „PiS off!“ noch zu den milden Varianten. Andere Losungen bieten Gelegenheit, sich mit den derbsten polnischen Schimpfwörtern bekannt zu machen.
Nur 11 Prozent befürwortet Abtreibungsverbot
Offenbar hatten die PiS und ihr mächtiger Vorsitzender Jaroslaw Kaczynski die Stimmung im Land völlig falsch eingeschätzt. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Kantar zeigt: 62 Prozent der Polen finden, dass eine Abtreibung unter bestimmten Bedingungen legal sein sollte; 22 Prozent sind dafür, einen Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch bis zur 12. Woche zu ermöglichen. Nur 11 Prozent der Befragten befürworten ein Abtreibungsverbot
Von den Protesten in die Ecke getrieben, bemüht Kaczynski alte Feindbilder und Verschwörungstheorien. Der 71-jährige Vize-Regierungschef rief die PiS-Anhänger auf, „um jeden Preis“ die Kirchen zu schützen. Diese würden nicht zufällig angegriffen. Vielmehr könne man bei den Attacken eine Vorbereitung und sogar Schulung erkennen. „Diese Attacke soll Polen vernichten. Sie soll zum Triumph von Kräften führen, deren Herrschaft die Geschichte des polnischen Volkes, so wie wir es kennen, beenden soll.“
Während sich die politische Stimmung aufheizt, hat die Corona-Pandemie Polen weiter fest im Griff. Die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen eines Tages erreichte am Mittwoch den Rekordwert von mehr als 18 000 Fällen. Die PiS-Regierung könnte bald den Ausnahmezustand verhängen, warnt Polens Menschenrechtsbeauftragter Adam Bodnar. „Ich befürchte, dass die Situation ausgenutzt wird, um unsere Bürgerrechte und -freiheiten ernsthaft einzuschränken“, sagte Bodnar dem Portal „Bezprawnik“. Unter anderem könnte dann auch die Versammlungsfreiheit ausgesetzt werden. Für die Straßenproteste wäre das das Ende.
2016 konnte Gesetzesentwurf gestoppt werden
Vor vier Jahren war es der polnischen Frauenbewegung gelungen, einen Gesetzesentwurf zu stoppen, der ein Totalverbot von Schwangerschaftsabbrüchen sowie Haftstrafen für Frauen und Ärzte vorsah. Am 3. Oktober 2016 blieben rund 200.000 Frauen bei einem "Generalstreik" der Arbeit fern. Kurz darauf ruderte die nationalkonservative Regierungspartei PiS zurück.
Diesmal jedoch sind die Bedingungen wegen der Corona-Pandemie anders. Während sich die politische Stimmung aufheizt, hat die Corona-Pandemie Polen weiter fest im Griff. Die Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen eines Tages erreichte am Mittwoch den Rekordwert von mehr als 18.000 Fällen. Die PiS-Regierung könnte bald den Ausnahmezustand verhängen, warnt Polens Menschenrechtsbeauftragter Adam Bodnar. „Ich befürchte, dass die Situation ausgenutzt wird, um unsere Bürgerrechte und -freiheiten ernsthaft einzuschränken“, sagte Bodnar dem Portal „Bezprawnik“. Unter anderem könnte dann auch die Versammlungsfreiheit ausgesetzt werden. Für die Straßenproteste wäre das das Ende.
Emotionale Szenen im Parlament
Die Proteste gegen die drastische Verschärfung des Abtreibungsrechts erreichten unterdessen auch das Parlament: Am Dienstag kam es nach Angaben der Nachrichtenagentur PAP zu emotionalen Szenen, nachdem der stellvertretende Parlamentsvorsitzende Ryszard Terlecki Symbole auf Masken von Oppositionsabgeordneten mit denen von Nazis verglichen hatte. Abgeordnete der Opposition liefen daraufhin zum Rednerpodium. Das Protestsymbol auf der Maske zeigt einen roten Blitz und richtet sich gegen das Urteil des Verfassungsgerichtshofs zur Abtreibung.
Terlecki, auch PiS-Fraktionschef, sagte PAP zufolge: "Ich bedauere, sagen zu müssen, dass es im Saal unter den Abgeordneten der Linken und der Bürgerplattform Mitglieder gibt, die Masken mit Zeichen tragen, die den Symbolen der Hitlerjugend und der SS ähneln." Eine Abgeordnete der Bürgerplattform (PO) lief daraufhin zum Rednerpult, machte auf die laufenden Massenproteste aufmerksam und kritisierte den PiS-Vorsitzenden Jaroslaw Kaczynski. Mehrere Linken-Abgeordnete kamen zum Podium und hielten Karten mit der Aufschrift "Frauen entscheiden" und "legale Abtreibung" in der Hand. Zwei Abgeordnete der Opposition wurden des Plenarsaales verwiesen. Am Abend gab es im Land den sechsten Tag in Folge Proteste gegen die Verschärfung. (dpa, TT.com)
Regierungspartei rief zu Verteidigung Polens und der Kirchen auf
Der Vorsitzende der polnischen Regierungspartei PiS und Vizeregierungschef Jaroslaw Kaczynski hat die Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Verschärfung des Abtreibungsverbots verteidigt. Die Verfassung lasse kein anderes Urteil zu, sagte er laut Kathpress in einer am Dienstagabend von seiner Partei veröffentlichten Videobotschaft.
In der ersten Wortmeldung zu der Entscheidung der Höchstrichter von vergangener Woche rief Kaczynski alle Mitglieder und Sympathisanten der nationalkonservativen PiS dazu auf, die katholische Kirche vor Angriffen von Demonstranten zu schützen. "Wir müssen vor allem die polnischen Kirchen verteidigen, wir müssen sie um jeden Preis verteidigen", so der nationalkonservative Politiker. Die durch das Verfassungsgerichtsurteil ausgelösten Massenproteste zielten darauf ab, Polen zu zerstören. Dieser Angriff solle jenen Kräften zum Sieg verhelfen, deren Herrschaft im Grunde die Geschichte der polnischen Nation beenden werde. "Verteidigen wir Polen, verteidigen wir den Patriotismus", sagte er. Die Gegner der PiS hätten der Regierung den Krieg erklärt.
Die Opposition kritisierte Kacyznskis Ansprache scharf. Das Aufrufen zu Hass und die Anstiftung zu einem Bürgerkrieg seien strafbar, schrieb der Vorsitzende der größten Oppositionspartei Bürgerplattform (PO), Borys Budka, auf Twitter.
Kacyznski betonte, die Morallehre der Kirche sei "das einzige Moralsystem, das allgemein bekannt ist". Es abzulehnen, sei "Nihilismus". Die Kirche könne allerdings unterschiedlich beurteilt werden. Man könne gläubig oder ungläubig sein, und Polen garantiere volle religiöse Toleranz.
Mit Verweis auf die Corona-Pandemie forderte er ein Ende der Proteste. Versammlungen von mehr als fünf Personen seien verboten. Demonstrationen würden bestimmt vielen Menschen das Leben kosten. Wer zu ihnen aufrufe, begehe ein "ernstes Verbrechen".