Brexit-Drama

Bei Brexit zeichnet sich kein Happy End ab: Frist endet am Sonntag

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
© JOHN THYS

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen schätzt die Lage im Brexit-Poker derzeit so ein, dass ein endgültiges Ausscheiden der Briten ohne Nachfolgeregelung wahrscheinlicher ist als eine Einigung in letzter Minute.

London, Brüssel – Kurz vor Ablauf der Frist stehen die Zeichen für eine Einigung in den Brexit-Verhandlungen schlecht. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zeigte sich laut Diplomaten skeptisch über die Aussichten eines Handelsabkommens mit Großbritannien: "Die Situation ist schwierig. Die Haupt-Hindernisse bestehen weiter", habe sie die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union am Freitag wissen lassen, sagte der Insider.

Die Kommissionschefin hatte sich demnach am zweiten Tag des EU-Treffens in einer kurzen Ansprache an die Gipfelteilnehmer gewandt. "Die Wahrscheinlichkeit eines 'no deal' ist größer als die eines 'deals'", sagte der EU-Vertreter.

Es bleibe nicht mehr viel Zeit, mahnte eine Sprecherin der deutschen Regierung in Berlin. Deutschland hat bis Jahresende die EU-Ratspräsidentschaft inne. Bis Sonntag werde weiterverhandelt: "Das müssen wir jetzt abwarten." Kanzlerin Angela Merkel habe mehrfach betont, dass ein Abkommen mit Großbritannien die beste Lösung sei. Die EU sei bereit dazu, aber nicht um jeden Preis.

Frist läuft noch bis Sonntag

Großbritannien und die EU haben sich eine Frist bis Sonntag gesetzt. Dann soll sich entscheiden, ob ein Handelsabkommen für die Zeit ab Jänner 2021 möglich ist. Die EU bereitet sich aber bereits auf den für die Wirtschaft schlimmsten Fall vor - einen harten Bruch zum Jahreswechsel, ohne dass die künftigen Beziehungen zueinander geklärt sind.

Von der Leyen hatte sich am Mittwochabend mit dem britischen Premierminister Boris Johnson auf die neue Frist bis Sonntag geeinigt. Johnson dämpfte danach die Erwartungen an ein Abkommen. Es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es nicht zu einer Vereinbarung komme.

Gleiche Hauptstreitpunkte seit Monaten ungelöst

Schon seit längerem haben sich die Brexit-Unterhändler aus London und Brüssel in den Hauptstreitpunkten verhakt: die künftigen Fischerei-Rechte, Garantien für einen fairen Wettbewerb und einen Streitschlichtungsmechanismus im Falle von Verstößen gegen das geplante Abkommen. Sollte es am Wochenende nicht doch noch zum Durchbruch kommen, droht Anfang 2021 ein harter Bruch mit größeren Verwerfungen für die Wirtschaft. Großbritannien war Ende Jänner 2020 offiziell aus der EU ausgetreten. Am 31. Dezember endet die Übergangsphase, in der es noch EU-Regeln anwenden muss.

Sollte es keine Einigung geben, wäre Großbritannien laut einer Daten-Auswertung des Münchner Ifo-Instituts wirtschaftlich der größere Verlierer als die EU. Wegen der Coronavirus-Pandemie und des drohenden Brexit-Chaos steuert der britische Bankenindex bereits auf den größten Jahresverlust seit zwölf Jahren zu. Das bisherige Minus summiert sich auf rund 34 Prozent. Nur im Jahr 2008 zu Zeiten der Finanzkrise war der Verlust mit fast 57 Prozent jemals größer. (APA, Reuters)

📽️ Video | No-Deal-Brexit immer wahrscheinlicher

Internationale Pressestimmen

Zu den schwierigen Gesprächen über ein Post-Brexit-Handelsabkommen der EU mit Großbritannien schreiben britische Zeitungen am Freitag:

Financial Times (London):

"Ein 'No-Deal' zusätzlich zu einer Pandemie, die einen schrecklichen Tribut an Menschenleben und Existenzgrundlagen gefordert hat, wäre ein Versagen von Staatskunst mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen. Dabei wäre der Schaden für Großbritannien angesichts des hohen Anteils seines Handels mit der EU größer, aber auch die EU-Mitglieder würden geschädigt werden. Jedwede letzte Chance auf eine Einigung wird von der Bereitschaft beider Seiten abhängen, nicht nur Kompromisse einzugehen, sondern sich gegenseitig besser zu verstehen. (...)

Doch Großbritannien ist die schwächere Partei. Wie beim EU-Austrittsabkommen vor einem Jahr wird (Premierminister Boris) Johnson Wege finden müssen, größere Kompromisse einzugehen und ein Abkommen zugleich als Triumph harter Verhandlungsführung zu verkaufen. Wie bei der nordirischen Grenze im letzten Jahr könnte eine Lösung Vereinbarungen beinhalten, die es ihm erlauben, formaljuristisch Souveränität zu beanspruchen, während er tatsächlich vielen Forderungen der EU nachgibt."

The Guardian (London):

"Die Fischereiwirtschaft ist nicht so groß, dass ihre Belange ein umfassendes Abkommen verhindern sollten. Es gibt auch keinen zwingenden praktischen oder prinzipiellen Grund, warum ein Streitschlichtungssystem unter Beteiligung des Europäischen Gerichtshofes nicht möglich sein sollte. Am wichtigsten ist aber, dass Großbritannien akzeptiert, dass eine gewisse regulatorische Angleichung an den EU-Binnenmarkt, mit der gleiche Wettbewerbsbedingungen gewährleistet werden sollen, überwiegend in seinem eigenen wirtschaftlichen Interesse liegt.

Letzteres ist nun der große Stolperstein. Boris Johnson und seine Partei legen dabei eine künstliche Naivität an den Tag. Sie verbrämen das Thema mit der angeblich unantastbaren Souveränität Großbritanniens. Damit weigern sie sich zu akzeptieren, dass eine vorurteilsfreie Teilung der Souveränität zu jedem Handelsabkommen gehört, das Großbritannien oder irgendeine andere Nation jemals abschließen wird, und eine Grundvoraussetzung für das Funktionieren internationalen Beziehungen ist."