Häufigkeit und Intensität von Essstörungen nehmen stark zu
Die Warteliste für Essstörungspatienten an der Kinder-und Jugendpsychiatrie in Innsbruck hat sich innerhalb eines Jahres verdoppelt. Direktorin Kathrin Sevecke fordert eine "sofortige Rückkehr zum Normalbetrieb" an allen Schulen und eine Öffnung der Sport- und Freizeiteinrichtungen.
Innsbruck – Die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie haben zu einem extremen Anstieg und zunehmender Intensität von Essstörungen unter Kindern und Jugendlichen geführt. Im vergangenen Jahr hätten viele junge Menschen extrem an Gewicht verloren oder zugenommen, die Warteliste für Essstörungspatienten an der Kinder-und Jugendpsychiatrie in Innsbruck habe sich innerhalb eines Jahres verdoppelt, berichtete die Direktorin Kathrin Sevecke.
Es müsse mehr über langfristige Nebenwirkungen der Pandemie diskutiert werden. "Die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Covid-Krise machen uns große Sorgen", meinte Sevecke. An der Kinder-und Jugendpsychiatrie in den Tiroler Krankenhäusern werde bereits triagiert. "Es wird lange dauern, bis die betroffenen Kindern und Jugendlichen wieder psychisch stabil sind", erklärte die Medizinerin, die auch die Österreichische Gesellschaft für Kinder-und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP) leitet. "Der extrem schlechte Zustand vieler Patienten ist ungünstig für den Behandlungserfolg".
Kinder brauchen "dringendst" strukturierten Alltag
Die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie forderte eine "sofortige Rückkehr zum Normalbetrieb" an allen Schulen und eine Öffnung der Sport- und Freizeiteinrichtungen unter Einhaltung bestimmter hygienischer Maßnahmen. Die Kinder und Jugendlichen müssen "dringendst" wieder einen strukturierten Alltag haben.
Im Austausch mit Kollegen aus anderen österreichischen Bundesländern, Süddeutschland, Schweiz und Südtirol habe sich bestätigt, dass es sich um ein "weitverbreitetes, grundsätzliches Phänomen" handle. Überraschend sei die Zunahme und Schwere von Essstörungen. Außerdem seien auch Symptome vermehrt aufgetreten, die "zuvor kaum beobachtet" wurden, etwa die Verweigerung Wasser zu trinken oder extreme sportliche Aktivität zuhause wie etwa Online-Workouts.
Fälle extremer Adipositas zugenommen
Grund für den Anstieg sei ohne Zweifel die psychische Belastung der Kinder und Jugendlichen durch die Covid-Maßnahmen, sagte Sevecke. "Die Patienten geben an, dass sie deutlich mehr Zeit gehabt hätten, sich mit dem Thema Ernährung auseinanderzusetzen". Durch den Wegfall der Alltagsroutine beschäftigen sie sich zunehmend mit Möglichkeiten der Gewichtsabnahme und dem Zählen von Kalorien - oder sie essen den ganzen Tag". Auch Fälle extremer Adipositas hätten stark zugenommen", erklärte Sevecke.
"Erschreckend" sei zudem der Umstand, dass der schlechte seelische und körperliche Zustand der Kinder und Jugendlichen den Eltern lange nicht aufgefallen ist. Eine Erklärung wäre laut Sevecke, dass die Eltern "mit den Auswirkungen der Pandemie und der zunehmenden Belastung durch Home-Office und finanziellen Sorgen selbst so beschäftigt gewesen sind, dass sie die psychische Erkrankung ihrer Kinder erst spät bemerkt haben".
Durch die Schließung der Schulen, Vereine und Sportstätten sei zudem ein "Korrektiv von außen" weggefallen, das Betroffene sonst auf körperliche Veränderungen ansprechen würde. "Begleitete Bewegung" sei essenziell für junge Menschen, sie führe zu "psychischer Stabilität" und wirke auch "prophylaktisch", erklärte die Medizinerin.
"Je eher man Hilfe sucht, desto besser", stellte Sevecke unmissverständlich klar. Sie wolle die Gesellschaft für die Thematik sensibilisieren, den Bürgern die langwierigen Folgen der Corona-Pandemie bewusst machen. An die Eltern appellierte sie, "hinzuschauen". Sie rate auf jeden Fall zur ehestmöglichen Abklärung jeglicher auffälliger Gewichtsveränderung und Kontaktaufnahme. (APA)