Kommentar

Gastbeitrag: „Wesensmerkmal unserer Gemeinschaft ist und bleibt Solidarität“

In einem Gastbeitrag anlässlich des Europatages am 9. Mai schreibt Martin Selmayr, der Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich, über den Bau Europas im Geist der Solidarität zwischen Menschen, Völkern und auch Generationen.

Der 9. Mai 1950, das ist das Geburtsdatum unserer einzigartigen Europäischen Gemeinschaften, die wir heute Europäische Union nennen. An diesem Tag gab der damalige französische Außenminister Robert Schuman seinen Plan bekannt, die gesamte Kohle- und Stahlproduktion Deutschlands und Frankreichs unter eine gemeinsame Verwaltung zu stellen und diese in die Hände einer supranationalen Hohen Behörde – der späteren Europäischen Kommission – zu legen.

Zur Person

Der Jurist Martin Selmayr ist seit 2019 Leiter der Vertretung der Europäischen Kommission in Österreich.

Zuvor war er Generalsekretär der Europäischen Kommission sowie Kabinettschef des EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker.

Was aus heutiger Sicht recht technisch und fast banal erscheint, war damals ein riesiger Schritt: Nur fünf Jahre nach dem Ende des zweiten blutigen Weltkrieges, den unser Kontinent erleben musste, sollten sich die langjährigen Erzfeinde Deutschland und Frankreich nicht nur die Hände reichen, sondern auf untrennbare Weise zusammenschließen. Denn Kohle und Stahl, das waren die zentralen Rohstoffe, die man für die Kriegsführung brauchte. Wenn zwei Staaten nun ihre gesamte Kohle- und Stahlproduktion zusammenlegten, dann wurde das Führen von Krieg gegeneinander unmöglich gemacht. Genau das war das politische Ziel des Schuman-Plans. Durch die konkrete Zusammenarbeit im Bereich Kohle und Stahl sollte, so die Idee Schumans, nach und nach eine unumkehrbare „Solidarität des Faktischen“ entstehen, und damit dauerhaft mehr Gemeinsamkeit als Trennendes.

Der Schuman-Plan ist – und das ist ein großes europäisches Wunder – aufgegangen. Deutschland und Frankreich sind heute nicht mehr Erzfeinde, sondern allerengste Partner und Freunde, die gemeinsam Kern und Motor einer Europäischen Union sind, in der sich mittlerweile insgesamt 27 Staaten, darunter seit 1995 auch Österreich, auf die Gemeinschafts-Idee verpflichtet haben. Gemeinsam wählen die Bürgerinnen und Bürger in diesen 27 Staaten alle vier Jahre ein Europäisches Parlament, das überall in der Union geltende Gesetze mitbeschließt. Wir haben einen gemeinsamen Binnenmarkt, mit dem Euro eine gemeinsame, stabile Währung und ein gemeinsames Rechtssystem, in dem der Europäischer Gerichtshof (EuGH) als gemeinsames Höchstgericht die letztverbindlichen Entscheidungen trifft. Und seit wenigen Monaten beschafft erstmals die Europäische Kommission gemeinsam mit den 27 Mitgliedstaaten Impfstoffe zum Schutz der europäischen Bevölkerung gegen das Covid-19-Virus.

Was in der Rückschau manchmal vergessen wird: Europa hat nie gleich reibungslos und perfekt funktioniert. Wer Neues wagt, hat oft mit Anlaufschwierigkeiten und Kinderkrankheiten zu kämpfen. Bei der gemeinsamen Verwaltung von Kohle und Stahl stritten sich die sechs Gründerstaaten vor 70 Jahren monatelang wie die Kesselflicker um den angemessenen Stahlpreis und die Beschäftigungsbedingungen der Arbeitnehmer. Und auch heute, beim gemeinsamen Impfen hat es zu Beginn dieses Jahres laut hörbar geknirscht und gehakt, bis wir es nach viel harter Arbeit gemeinsam geschafft haben, dass wir heute sogar die USA in der Impfgeschwindigkeit überholen. Jeder dritte Europäer ist inzwischen geimpft, und genauso wie in den USA werden auch in der Europäischen Union bis Juli 70% alle Erwachsenen ein Impfangebot erhalten – hoffentlich dann sehr bald auch Kinder und Jugendliche, es sieht gut aus dafür.

Ob Kohle und Stahl, ob der Euro oder das Impfen: Das Wesensmerkmal unserer Gemeinschaft als Europäer ist und bleibt die Solidarität. Robert Schuman sprach 1950 noch behutsam von der „Solidarität des Faktischen“, heute taucht der Begriff Solidarität mehr als 30mal in unseren Europäischen Verträgen auf, er ist zum Rechtsgrundsatz erstarkt, ob in der Wirtschafts- oder Energiepolitik, bei der Terrorismusbekämpfung oder in der Entwicklungszusammenarbeit.

Ein neuartiger, moderner Aspekt der Solidarität ist erst seit gut zehn Jahren in den EU-Verträgen verankert: die Solidarität zwischen den Generationen.

Europa ist mit Abstand der älteste Kontinent der Welt. Es war daher ein starker Ausdruck der Solidarität zwischen den Generationen, dass in den langen Monaten der Corona-Pandemie junge Menschen sehr viel Rücksicht auf die ältere, verletzlichere Generation genommen haben.

In den kommenden Wochen wollen wir diese Solidarität ein Stück weit zurückgeben. In der Debatte um die Zukunft Europas, die alle 27 Mitgliedstaaten gemeinsam offiziell am 9. Mai starten, sollen deshalb junge Menschen, ob Schüler oder Studierende, ob Lehrlinge oder Auszubildende, verstärkt zu Wort kommen und besonders Gehör finden.

Denn ob in der Klima-, der Finanz- oder der Gesundheitspolitik: Das Europa, an dem wir heute bauen, das muss den Bedürfnissen und Hoffnungen der nächsten Generation entsprechen.

Europa muss gerade jetzt verstärkt im Geist der Solidarität zwischen Menschen, Völkern und auch Generationen gebaut werden.

Wenn das gelingt, dann hat Europa Zukunft.