Taliban-Vormarsch

Fluchtwelle aus Afghanistan erwartet, ÖVP weiter gegen Abschiebestopp

Viele afghanische Familien aus anderen Landesteilen sind in den vergangenen Tagen vor den Taliban in die Hauptstadt Kabul geflüchtet. Dort haben sie provisorische Lager aufgeschlagen.
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Trotz Kritik spricht sich Innenminister Nehammer (ÖVP) klar gegen einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan aus. Außenminister Schallenberg (ÖVP) will Schlepperei bekämpfen und auf Hilfe vor Ort setzen. Deutschland erwartet wegen des Taliban-Vormarsches einen stark erhöhten Flüchtlingsdruck auf die EU.

Wien, Kabul – Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) spricht sich trotz Kritik weiter gegen einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan aus. „Es ist einfach, einen generellen Abschiebestopp nach Afghanistan zu fordern, aber andererseits die zu erwartenden Fluchtbewegungen zu negieren. Wer Schutz benötigt, muss diesen möglichst nahe am Herkunftsland erhalten“, so Nehammer. Von einem „Bluff“ sprach die FPÖ: Seit zwei Monaten sei „kein einziger Afghane außer Landes gebracht“ worden.

Im Büro von Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) verwies man auf die Aussagen des Grünen Parteichefs vom Donnerstag, wonach laut Experten-Sicht Abschiebungen nach Afghanistan derzeit rechtlich und faktisch nicht möglich seien.

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„Ein genereller Abschiebestopp ist ein Pull Faktor für die illegale Migration und befeuert nur das rücksichtlose und zynische Geschäft der Schlepper und somit der organisierten Kriminalität,“ erklärte Nehammer am Samstag in einem Statement gegenüber der APA. Es seien fast ausschließlich junge Männer, die einen Asylantrag in Österreich stellen, betonte er. „Als Innenminister trage ich vor allem Verantwortung für die in Österreich lebenden Menschen. Das bedeutet vor allem den sozialen Frieden und den Wohlfahrtsstaat nachhaltig zu schützen.“

Schallenberg: Schlepperei bekämpfen und Hilfe vor Ort

Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) will bei der Bekämpfung der Schlepperei auf regionale und internationale Kooperation setzen: „Wir werden die Nachbarstaaten nicht im Stich lassen, wenn es um das Grenzmanagement und den Kampf gegen die organisierte Kriminalität geht“. Hier könne man auf die Erfahrung der in Wien ansässigen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) zurückgreifen – etwa was den Aufbau von Kapazitäten im Bereich Grenzschutz, Kampf gegen Terrorismus, Menschen-, Drogen- und Waffenschmuggel betrifft, so der Minister.

Um die illegale Migration in Richtung Europa – „und somit auch nach Österreich“ – einzudämmen, brauche es einen „ganzheitlichen Ansatz“, sagte Nehammer. Das vordringliche Ziel müsse es daher sein, die Nachbarstaaten Afghanistans bei der Bewältigung dieser „schwierigen Aufgaben“ zu unterstützen. „Wir werden wie in der Vergangenheit auch weiterhin humanitäre Hilfe vor Ort leisten, um die Not der Zivilbevölkerung zu lindern,“ ergänzte Schallenberg.

📽 Video | Völkerrechtsexperte über Abschiebungen nach Afghanistan

Der Außenminister warnte vor der internationalen Dimension des aktuellen Konflikts: „Die Krise in Afghanistan spielt sich nicht im luftleeren Raum ab“, sagte er. „Konflikt und Instabilität in der Region wird früher oder später auch auf Europa und somit auf Österreich überschwappen. Durch unser Handeln nach außen stärken wir unsere Sicherheit nach innen.“

Kickl spricht von „Bluff der Türkisen“

FPÖ-Chef Herbert Kickl sprach von einem „peinlichen Bluff der Türkisen“: „Die ÖVP versucht mit allen Mitteln den Anschein zu wahren, man würde weiter Abschiebungen nach Afghanistan durchführen. Tatsache ist, dass der letzte Abschiebeflug bereits vor zwei Monaten stattgefunden hat und seitdem kein einziger Afghane außer Landes gebracht wurde“, so der Parteiobmann in einer Aussendung am Samstag.

Kickl verwies auch darauf, dass bis Juli 2021 den 2514 Asylanträgen lediglich 199 Außerlandesbringungen von Afghanen gegenüberstehen. „Kurz und Nehammer tun einmal mehr so, als würde die Bundesregierung eine harte Linie bei Abschiebungen vertreten, dabei ist genau das Gegenteil der Fall, nämlich eine Asylantragsflut und ein seit Monaten bestehender Stopp bei den Abschiebungen. In Wahrheit sind die Türkisen damit voll auf der Linie des grünen Koalitionspartners“, so Kickl.

Letzter Abschiebe-Flug im Juni

Im Innenministerium bestätigte man, dass der letzte Abschiebe-Flug im Juni (16.) stattgefunden hat. Im Jahr 2021 habe es (bis Juli) vier Charter-Abschiebeflüge nach Afghanistan gegeben – ebenso viele wie im Gesamtjahr 2017. Im Jahr 2018 seien sechs derartige Flüge durchgeführt worden, 2019 neun und im Vorjahr Corona-bedingt nur drei. Im Schnitt würden alle zwei bis drei Monate derartige Abschiebungen durchgeführt. Der letzte geplante Abschiebeflug Anfang August war von Afghanistan mit Verweis auf die Covid-Bestimmungen abgelehnt worden, hieß es aus dem Ressort.

Taliban-Kämpfer in der drittgrößten afghanischen Stadt Herat. Die militanten Islamisten haben bereits mehr als die Hälfte aller Provinzhauptstädte des Landes eingenommen und formieren sich nun vor Kabul.
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Neben Schweden haben mittlerweile auch Frankreich, Dänemark und Deutschland Abschiebungen nach Afghanistan ausgesetzt. Im Innenministerium plant man nun anstelle der internationalen Frontex-Abschiebeflüge selbst nationale Charterflüge zu organisieren und durchzuführen. Laut Ministerium gelte es nun mit Frontex abzuklären, ob die selbst organisierten Charterflüge über die Agentur laufen und damit aus dem EU-Budget finanziert werden – oder Österreich selbst für die Kosten aufkommen müsste.

Im Ministerium verwies man darauf, dass weiterhin zwangsweise Außerlandesbindungen von Afghanen in andere EU-Staaten nach der Dublin-Verordnung durchgeführt werden. Seit Jahresanfang seien dies insgesamt 80 gewesen.

BKA: Abschiebestopp wäre falsches Signal an Schlepper

Gerald Tatzgern, der Leiter des Büros zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Schlepperei im Bundeskriminalamt, warnte am Samstag vor falschen Signalen an die Schlepper bzw. die Betroffenen, die durch die Bekanntgabe eines generellen Abschiebestopps ausgelöst würden. Viele Schlepper versuchen demnach bereits jetzt, aufgrund dieser Meldungen aus mehreren europäischen Ländern ihr Geschäft noch mehr zu forcieren. Dazu würden sie „Garantien“ abgeben, dass die Betroffenen nach der Schleppung nicht mehr abgeschoben werden. Dies motiviere aktuell vor allem jene Afghanen, auf die Schlepper zurückzugreifen, die gar nicht mehr in Afghanistan leben, sondern bereits außerhalb des Landes, verwies Tatzgern etwa auf „Millionen Afghanen im Iran“. „Man unterstützt das Schleppergeschäft mit diesem Signal“, sagte er.

Einen „generellen Abschiebestopp“ nach Afghanistan forderte am Samstag unterdessen die IG Autoinnen Autoren von der Regierung. „Keiner der dorthin Abgeschobenen ist seines Lebens noch sicher, wenn sie den Taliban in die Hände fallen“, hieß es in einem offenen Brief. „Die österreichische Bundesregierung, die gerne den mutigen Kämpfer gegen den radikalen Islamismus gibt, wenn es um heimische Muslime geht, droht nun zum Handlanger der dschihadistischen Truppen zu werden.“

Deutscher Minister warnt vor erhöhtem Flüchtlingsdruck auf EU

Nach Ansicht des deutschen EU-Staatsministers Michael Roth (SPD) wird die aktuelle Krise in Afghanistan Europa mit einer stark steigenden Flüchtlingszahl konfrontieren. „Die Zahl der Geflüchteten hat bereits dramatisch zugenommen“, sagte Roth der Rheinischen Post. Die deutsche Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock warnte indessen vor einer Wiederholung von Versäumnissen von 2015.

Die europäischen Länder seien während des syrischen Bürgerkriegs auf fatale Weise unvorbereitet gewesen, dass Menschen in so einer dramatischen Situation ihr Land verlassen müssten, sagte Baerbock laut Nachrichtenagentur Reuters in einem Interview des Deutschlandfunk. Man dürfe diesen katastrophalen Fehler nicht wiederholen und warten, bis alle 27 EU-Länder zur Aufnahmen von Flüchtlingen bereit seien. Vielmehr müsse man sich mit den europäischen Ländern zusammenschließen, die dazu bereit seien. Auch mit den USA und Kanada müsse man sich abstimmen. Gemeinsam müssten klare Kontingentregeln vereinbart werden.

3,5 Millionen Binnenflüchtlinge am Hindukusch

Roth führte aus, dass es derzeit am Hindukusch 3,5 Millionen Binnenflüchtlinge gebe, 400.000 allein in diesem Jahr. „Der Druck wird auch auf die Türkei, Iran und Pakistan massiv steigen. Ich bin mir sicher, dass der Migrationsdruck auf die EU und Deutschland aber auch zunehmen wird. Umso wichtiger ist es, dass wir das EU-Abkommen mit der Türkei zur Unterstützung der Geflüchteten vor Ort schnell umsetzen.“ Auf die Frage, ob ein neuer Deal mit Ankara notwendig sei, antwortete Roth: „Es gab im Juni bereits eine Überarbeitung der Vereinbarung. Die muss jetzt umgesetzt werden. Da können wir die Türkei nicht alleine lassen, schließlich geht es um Programme für Unterkunft, medizinische Versorgung, Bildung und Beschäftigung von Geflüchteten.“

Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei sieht unter anderem vor, dass die Türkei gegen unerlaubte Migration in die EU vorgeht und Griechenland illegal auf die Ägäis-Inseln gelangte Migranten zurück in die Türkei schicken kann. Im Gegenzug übernimmt die EU für jeden zurückgeschickten Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei und unterstützt das Land finanziell bei der Versorgung der Flüchtlinge.

Seit Beginn des Abzugs der NATO-Truppen aus Afghanistan haben die Taliban weite Teile des Landes unter ihre Kontrolle gebracht. In den vergangenen Tagen nahmen die militanten Islamisten mehr als die Hälfte der 34 afghanischen Provinzhauptstädte ein, zuletzt auch die zweitgrößte Stadt Kandahar. Am Freitag standen sie nach der Eroberung der Provinzhauptstadt Pul-e-Alam nur noch 50 Kilometer vor der Hauptstadt Kabul. (TT.com, APA)

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