Afghanistan

Pressestimmen zum Taliban-Vormarsch: „Basis für Terror und Flüchtlings-Exodus“

Taliban-Kämpfer auf einem Auto in der Stadt Kandahar werden von Sympathisanten umringt.
© AFP

Internationale Zeitungen kommentierten am Samstag den Vormarsch der Taliban in Afghanistan. Eine Auswahl.

„The Times“ (London):

„Die übergeordnete Frage ist, welche Folgen diese Niederlage für die Hoffnungen des Westens hat, in dieser Ära des Wettbewerbs der Großmächte zu bestehen. Chinesische Kommentatoren mögen eifrig darauf hinweisen, dass Afghanistan seit langem als Friedhof der Imperien bekannt ist und dass auf den russischen Rückzug im Jahr 1989 der Zusammenbruch der Sowjetunion folgte. Andererseits kann sich der Westen damit trösten, dass er nicht nur das Debakel von Vietnam überlebt, sondern auch den Kalten Krieg gewonnen hat.

Sicher ist dies: Wenn der Westen sich im Wettbewerb mit China, einem weitaus stärkeren Rivalen, durchsetzen will, dann muss er seine Verbündeten und potenziellen Partner davon überzeugen, dass sein wirtschaftliches und politisches Modell es nicht nur wert ist, verteidigt zu werden, sondern dass er auch bereit ist, es zu verteidigen. Diese Aufgabe wird durch die Szenen der Verzweiflung in Afghanistan erschwert.“

„The Telegraph“ (London):

„Der schnelle Vormarsch der Taliban in Afghanistan ist eine Tragödie, denn die Herrschaft der Taliban bedeutet Diktatur und Elend. Es gibt bereits Berichte über Frauen, denen das Recht auf Arbeit verweigert wird, die gezwungen werden, im Haus zu bleiben, und sogar von Mädchen, die mit Kämpfern zwangsverheiratet werden. Der Zusammenbruch des im Entstehen begriffenen afghanischen Staates, der heute wahrscheinlicher ist als je zuvor, würde einen Exodus von Flüchtlingen auslösen und eine Basis für künftige terroristische Aktivitäten schaffen. Ganz unabhängig davon, was man davon hält, dass der Westen 2001 in das Land einmarschiert ist, hatte er die Verantwortung, das Land auf angemessene Art und Weise zu verlassen. Das hat er ganz offensichtlich nicht getan.“

„de Volkskrant“ (Amsterdam):

„Schätzungen zufolge kämpfen etwa 500 Al-Kaida-Leute an der Seite der Taliban. Der Islamische Staat (IS) ist ebenfalls in Afghanistan präsent, allerdings befindet sich diese Organisation im Konflikt mit den Taliban. In dem „Friedensabkommen“, das die Taliban im vergangenen Jahr mit der Regierung von US-Präsident Donald Trump unterzeichneten, versprachen sie, dass Afghanistan nicht wieder zu einem sicheren Hafen für Al-Kaida und ähnliche Gruppen werden würde. Einem Bericht für den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zufolge ist es jedoch „unmöglich zu beurteilen“, ob die Taliban dieses Versprechen einhalten werden.“

„Tages-Anzeiger“ (Zürich):

„Es wäre im ureigenen Interesse der USA, eine Rückkehr der Taliban zu verhindern. Die drohenden neuen Gefahren sind die alten: Islamistische Terroristen könnten erneut in Afghanistan untertauchen und Anschläge im Westen aushecken. Laut UN-Sicherheitsrat ist Al-Kaida in der Hälfte der Provinzen wieder präsent. Auch der IS hat eine Filiale eröffnet, pakistanische Terrorgruppen sind ebenfalls da. (...)

US-Präsident Joe Biden sollte Flagge zeigen in Kabul, und zwar rasch. Ein paar Tausend Soldaten, um das Botschaftspersonal zu evakuieren, reichen nicht. Damit kann Biden vielleicht verhindern, dass es Bilder gibt wie 1975 aus Saigon, als vom Dach der US-Botschaft die letzten Amerikaner per Helikopter evakuiert wurden. Können die Taliban ihre Schreckensherrschaft wieder errichten, wird das Bidens persönliche Niederlage sein. Auch wenn er mit dem Krieg in Afghanistan viel weniger zu tun hatte als seine drei Vorgänger im Weißen Haus.“

„La Repubblica“ (Rom):

„An jenem verfluchten 30. April 1975, dem Tag des Falls von Saigon, war Joe Biden 32 Jahre alt, noch am Beginn seiner politischen Karriere, der jüngste Senator in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Heute ist er der älteste Präsident Amerikas, und auch wenn man ihn für einen außenpolitischen Experten hält, wird ihm vorgeworfen, diese schändliche Episode zu wiederholen. Viele vergleichen den Abzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan mit dem Rückzug aus Vietnam. (...)

Aber die amerikanische öffentliche Meinung hat viele andere Prioritäten: schnell aus der Pandemie herauszukommen, das Wirtschaftswachstum zu festigen, wieder Vollbeschäftigung zu erreichen. Der linke Flügel der Demokratischen Partei will Investitionen von 3.500 Milliarden Dollar in zehn Jahren mit dem Ziel, einen Wohlfahrtsstaat und eine nachhaltige Wirtschaft mit null Emissionen zu schaffen. Der Krieg in Afghanistan, der in 20 Jahren schon 2.000 Milliarden gekostet hat, hätte im Falle einer Verlängerung Ressourcen von diesen Baustellen progressiver Reformen abgezogen. Es ist daher nicht schwer zu verstehen, warum Biden inmitten eines ohrenbetäubenden Chors der Kritiken entschlossen scheint, hart zu bleiben.“

„El Mundo“ (Madrid):

„Der Sturz Kabuls und die Übernahme des ganzen Landes durch die Taliban ist absehbar. Nach dem Abzug der US-Truppen stürzen die fragilen Strukturen des Staates und der seit Jahren von alliierten Militärs, auch Spaniern, ausgebildeten Armee wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Afghanische Soldaten übergeben ohne Widerstand ihre Waffen. Die Rache der Taliban kommt schnell und unerbittlich und trifft hauptsächlich Frauen und Mädchen.

Joe Biden hat bekräftigt, dass er den Abzug seiner Truppen trotzdem nicht stoppen wird. Das Botschaftspersonal soll evakuiert werden, ein weiteres Zeichen für die fatale Niederlage nach zwei Jahrzehnten Arbeit im Land. Eine historische Parallele drängt sich auf zu dem verzweifelten Helikopterflug von US-Bürgern und Südvietnamesen beim Fall Saigons 1975.

Es ist niederschmetternd zu sehen, wie die Lage an ihren Ausgangspunkt von 2001 zurückkehrt und in Afghanistan mit Unterstützung Pakistans wieder ein islamisches Regime etabliert wird, das zweifellos erneut Terror exportieren wird, wie es Al-Kaida und Osama bin Laden von ihrer dortigen Operationsbasis 2001 aus taten.“

„De Standaard“ (Brüssel):

„Abgesehen von der erneuten Terrorismusgefahr macht Europa sich auch Sorgen wegen einer neuen Einwanderungsbewegung. Die Panik in Afghanistan ist bereits groß. Wenn das von der Regierung kontrollierte Gebiet immer mehr schrumpft und die Scharia wieder eingeführt wird, ist eine Abwanderung vor allem jüngerer Afghanen absehbar. Zumal schon jetzt einiges darauf hindeutet, dass die Taliban im Jahr 2021 noch genauso fundamentalistisch sind wie vor zwanzig Jahren.

Auch der Zusammenbruch der Wirtschaft wird die Migration verstärken. Neunzig Prozent der Soldaten der afghanischen Regierung wurden vor allem von den USA bezahlt, und drei Viertel der zivilen Ausgaben wurden vom Westen übernommen. Wenn das wegfällt, wird die afghanische Wirtschaft abstürzen.“ (APA/dpa)

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