Theater

„Komplizen" im Burgtheater: Furioses Klassen-Leporello

Birgit Minichmayr und Michael Maertens arbeiten sich in „Komplizen“ an ihrer privilegierten Existenz ab.
© Ruiz Cruz

Burgtheater-Uraufführung von „Komplizen“: Der Autor-Regisseur Simon Stone führt Maxim Gorkis „Kinder der Sonne“ und „Feinde“ in ein alarmierendes Heute.

Von Bernadette Lietzow

Wien – Licht, Luft, Sonne. Hier nicht als Wohnkonzept des „Roten Wien“ der 1920er-Jahre, sondern als repräsentatives Muss der oberen Mittelschicht. Die gläsernen Pavillons der schicken Villa in einem Wiener Nobelbezirk, die Bob Cousins auf die Burgtheaterbühne gestellt hat, vermitteln mit ihren Einblicken auf edle Räume, idyllischen Garten und Labortrakt, Transparenz und elegante Leichtigkeit.

In diesem idealen, sich langsam drehenden Ambiente stehen die Zeichen von Beginn an auf Sturm. Paul wohnt hier, der in die Jahre gekommene Spross einer Konservenfabrikanten-Dynastie ist ein erfolgloser Wissenschafter mit Hang zum Alkohol und bekommt von der Haushälterin Anita die Leviten gelesen. Die „Perle“ bezahlt man gut, muss sie doch die Aufgabe der jederzeit verfügbaren Vertrauten erfüllen. Michael Maertens widmet der Rolle des Paul seine brillante Zerknautschtheit und legt gemeinsam mit Annamária Láng eine große Einstiegsszene in einen vierstündigen, fast bis zum Platzen mit Gegenwartsbefunden gefüllten Abend vor.

Simon Stone, der australisch-schweizerische Regisseur, Autor und Filmemacher – zuletzt drehte er für Netflix den Film „Die Ausgrabung“ mit Carey Mulligan und Ralph Fiennes in den Hauptrollen –, bediente sich auch für „Komplizen“, das am Samstag am Burgtheater zur bejubelten Uraufführung gebracht wurde, seiner ureigenen und mehrfach ausgezeichneten Methode: Er verwebt Fasern, Ahnungen und Stimmungen vorliegender Stücke neu und setzt diese in unser Jetzt.

Das Ausgangsmaterial für „Komplizen“ ist einerseits Maxim Gorkis Drama „Kinder der Sonne“, das die egozentrischen Nöte einer bürgerlichen Clique inmitten einer sie umtosenden Cholera-Epidemie zum Inhalt hat. „Feinde“, Gorkis auf einer USA-Reise 1906 entstandenes Stück, liefert weitere Erzählstränge, die auf die ausgebeutete, arbeitende Klasse und deren Aufbegehren fokussieren. Zeitreise in die Zukunft – 115 Jahre später scheint die Welt nur in ihren technischen Möglichkeiten eine andere zu sein.

Die gesellschafts- wie umweltpolitisch fatalen Auswirkungen neoliberalen Gewinnstrebens mit der zunehmenden Verarmung breiter Schichten und eine Pandemie mit noch ungewissen Folgen halten den Globus im Würgegriff, begleitet von zunehmender Radikalisierung bei gleichzeitiger Resignation.

Das gesamte Spektrum dieser Zumutungen findet Eingang in den flirrenden Darsteller-Abend. Simon Stone kann, will und muss mit einem Ensemble arbeiten, das sowohl für die – sukzessive während des Probenprozesses entstehende – Arbeit brennt wie auch in der Lage ist, die Flut an Inhalten umzusetzen.

Peter Simonischek gibt den souveränen Patriarchen, der von seinem jungen Geschäftsführer und dessen Gattin (Bardo Böhlefeld, Stacyian Jackson) mittels spekulativer Intrige gleichsam enteignet wird. Birgit Minichmayr ist die mit sich selbst verhandelnde, nur um sich selbst kreisende Anwältin, die der Schauspielerin Tanya (Lilith Häßle) den Ehemann Paul ausspannen will. Tanya wiederum wird vom Filmemacher Dietmar (Roland Koch) umschwärmt, man wäre jedoch auch für eine Vergnügung zu viert offen. Die Lisa der Mavie Hörbiger, die am Freitod ihres Therapeuten-Freundes Botho (Felix Rech) irre werden wird, ist die sozialbewegte Verbinderin zur „Arbeiterklasse“ – bis diese randalierend ihrer Existenz als „Kind der Sonne“ zu nahe kommt. Igor (Rainer Galke), das Haustechniker-Rauhbein, dessen Frau an Covid verstirbt, die Arbeiter Jürgen (Falk Rockstroh) und Goran (Dalibor Nikolic), sie alle sind „Dienende“, mit schlechten Karten. Und ob der jungen Putzfrau Farida (Safira Robens) eine Karriere als Ärztin gelingen kann, sei – siehe gesellschaftliche Durchlässigkeit im Bildungsbereich, dahingestellt. Bittere Gegenwart.

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