Mordfall Sarah Everard: Britische Polizei unter Kritik
Der Mörder von Sarah Everard, ein Polizist, hatte sein Amt und seine Ausrüstung missbraucht, um die 33-Jährige zu verschleppen.
London – Nach dem Urteil im Fall der von einem Polizisten ermordeten Londonerin Sarah Everard gerät die britische Polizei immer mehr unter Kritik. Premierminister Boris Johnson bemängelte den Umgang der Polizei mit Gewalt gegen Frauen. "Nimmt die Polizei diese Probleme ernst genug? Es ist unerträglich. Ich denke, die Menschen haben das Gefühl, dass sie das nicht tut, und sie haben nicht Unrecht", so Johnson in einem Interview mit der Zeitung "Times" am Samstag.
Trotzdem könne der Polizei aber grundsätzlich vertraut werden, so der konservative Politiker weiter. Im Fall der 33 Jahre alten Everard hatte der Täter seinem Opfer vorgegaukelt, er habe Gründe sie festzunehmen, und konnte sie so in seine Gewalt bringen. Unter anderem deswegen wurde er in dieser Woche zur Höchststrafe verurteilt und muss den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen.
Kritiker sehen in dem Verbrechen jedoch nicht nur einen extremen Einzelfall, sondern die Folge einer frauenfeindlichen Kultur innerhalb der Polizei selbst. So berichten Insider, dass Kollegen, die sich Übergriffe zuschulden kommen lassen, gedeckt werden. Der Täter im Fall Everard soll mehrfach durch Exhibitionismus aufgefallen sein und unter Kollegen wegen seines unangemessenen Verhaltens gegenüber Frauen berüchtigt gewesen sein. Vorgeworfen wird der Polizei zudem, sie nehme Anzeigen von Frauen über sexuelle Übergriffe oft nicht ernst.
Vorschläge "geradezu lächerlich"
Ein hochrangiger Polizeibeamter aus der Grafschaft North Yorkshire zog zudem heftige Kritik mit der Äußerung auf sich, Everard hätte sich der falschen Festnahme widersetzen sollen. Auch Tipps von Scotland Yard, sich beispielsweise Hilfe von Passanten zu holen oder den Notruf zu wählen, wenn man von einem einzelnen Zivilpolizisten angesprochen wird und Zweifel an dessen Echtheit hat, wurden als "absurd" und "unmöglich" kritisiert.
Die Vorschläge seien "geradezu lächerlich, wenn es nicht so ekelhaft wäre", sagte die Frauenrechtsaktivistin Patsy Stevenson der Nachrichtenagentur PA. Die Frauenrechtsorganisation Reclaim These Streets, die nach dem Mord an Everard Proteste und eine Mahnwache organisiert hatte, sagte: "Wieder wird die Verantwortung auf die Frauen gelegt, sich selbst zu schützen – und was noch schlimmer ist, dass sie sich vor den Menschen schützen sollen, die sie beschützen sollen."
Die Labour-Abgeordnete Bell Ribeiro-Addy twitterte, "dieser völlig lächerliche Ratschlag" zeige, dass die Polizei Gewalt gegen Frauen immer noch nicht ernst nehme. "Und sie fragen sich, warum das Vertrauen so niedrig ist wie nie zuvor?" In einem weiteren Tweet betonte die Oppositionspolitikerin: "Dies spielt genau in die abscheuliche Kultur der Täter-Opfer-Umkehr ein, die wir so oft sehen, wenn Frauen angegriffen werden." Die Ex-Chefin der schottischen Konservativen, Ruth Davidson, nannte die Ratschläge "so schlimm". Die Met betonte hingegen, es handle sich um wenige Ausnahmesituationen, in denen Zivilpolizisten alleine unterwegs seien.
"Sie greifen nach jedem Strohhalm", sagte Stevenson. In solchen Situationen könne man nicht einfach ein Fahrzeug anhalten. "Können Sie sich das Misstrauen der Menschen vorstellen, wenn sie sich auf diese Weise vor der Polizei schützen sollen? Das ist schockierend." Die Polizei will mit solchen und ähnlichen Ratschlägen eigentlich das Vertrauen der Bevölkerung zurückgewinnen.
Kritik an männlich dominierten Sichtweisen kam auch von der schottischen Regierungschefin Nicola Sturgeon. Mit Blick auf Aussagen eines Politikers, Everard hätte gewahr sein müssen, dass ihr Mörder sie nicht habe anhalten dürfen, betonte Sturgeon: "Die Kommentare sind erschreckend. Es liegt nicht an Frauen, dies zu ändern." Das Problem laute männliche Gewalt, nicht weibliches Versagen dabei, immer erfinderischer beim Selbstschutz zu werden, twitterte die Regierungschefin. (APA/dpa)