Deutschland

Schäuble geht und Bas kommt, Merkel nur noch Gast im Bundestag

Der bisherige Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (Mitte) gratuliert seiner Nachfolgerin Bärbel Bas.
© TOBIAS SCHWARZ

Der deutsche Bundestag erlebt bereits den politischen Wandel, über den SPD, Grüne und FDP noch verhandeln: In der ersten Sitzung tritt ein alter Fahrensmann ab. Das Parlament bekommt zum dritten Mal eine Präsidentin. Und die Kanzlerin sitzt auf einem ungewohnten Platz.

Von Ulrich Steinkohl, dpa

Berlin – Die Kanzlerin kommt sieben Minuten vor Sitzungsbeginn. Um 10.53 Uhr betritt Angela Merkel den Plenarsaal im Reichstag – wie so oft fast unbemerkt. Was an diesem Tag aber vor allem daran liegt, dass die CDU-Politikerin nicht den Weg zur Regierungsbank sucht, noch nicht einmal zu den Abgeordnetenplätzen. Merkel nimmt zur konstituierenden Sitzung des Bundestags auf der Gästetribüne Platz – zwischen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der früheren Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth. Nichts symbolisiert den politischen Wechsel, vor dem Deutschland steht, mehr als diese Szene.

AfD scheitert mit Antrag

Genau 30 Tage nach der Wahl nimmt der Bundestag seine Arbeit auf – er reizt damit die vom Grundgesetz vorgegebene Frist voll aus. Eröffnet wird die Sitzung traditionell vom Alterspräsidenten. Bis 2017 war das der älteste Abgeordnete. Dann wurde die Regel geändert, um den AfD-Mann Alexander Gauland als Alterspräsidenten zu verhindern. Nun ist es der Abgeordnete mit den meisten Jahren im Bundestag. Also Wolfgang Schäuble. Es dauert jedoch eine Viertelstunde, bis der CDU-Politiker loslegen kann, denn die AfD beantragt – erfolglos – eine Rückkehr zur alten Regel, was wieder auf Gauland hinaus liefe.

Der AfD-Abgeordnete Alexander Gauland.
© ODD ANDERSEN

Dass sich ihr Parlamentarischer Geschäftsführer Bernd Baumann dabei zu einem Vergleich mit dem früheren NS-Funktionär Hermann Göring versteigt, löst den ersten Tumult des Tages aus. Es soll nicht der einzige bleiben. Denn als kurz darauf Jan Korte von der Linken der AfD bescheinigt, sie stehe „in der Tradition der Nazis“, toben die Rechtspopulisten.

Aber das sind nur die schon aus der alten Wahlperiode bekannten Scharmützel – an einem Tag, an dem der Bundestag den vielleicht letzten großen Auftritt Schäubles erlebt. Also jenes Politikers, der dem Parlament seit fast einem halben Jahrhundert angehört – und der zumeist in herausgehobener politischer Stellung stand. Sei es als Vorsitzender der Unionsfraktion, als Kanzleramtschef, Bundesminister (Innen, Finanzen) oder zuletzt Bundestagspräsident. Und der nach diesem Tag nur noch einfacher Abgeordneter sein wird.

Es klingt fast wie ein Vermächtnis, wenn Schäuble in seiner Rede mahnt: „Es braucht ein selbstbewusstes Parlament – selbstbewusste Parlamentarier.“ Wenn er die Abgeordneten zum leidenschaftlichen, aber fairen Streit aufruft: „Wenn wir das Prinzip der Repräsentation stärken wollen, dann müssen wir uns immer wieder um die Faszination der großen, strittigen Debatte bemühen.“ Denn: „Das Parlament ist immer auch eine politische Bühne und nicht bloß eine notarielle Veranstaltung, um Koalitionsverträge abzuarbeiten.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier nahmen auf der Ehrentribüne Platz.
© Kay Nietfeld

Auch einen Seitenhieb auf die Justiz gestattet sich Schäuble. Es liege an den Abgeordneten, „wie weit wir unsere Gestaltungsspielräume als Gesetzgeber einengen lassen durch eine Rechtsprechung, die bisweilen mindestens an die Grenzen ihres Mandats geht“. Dazu gehöre allerdings auch, „Verantwortung, die politisch wahrzunehmen ist, nicht auf Gerichte abzuwälzen“.

Zur politisch wahrzunehmenden Verantwortung zählt für den CDU-Mann auch eine effektive Wahlrechtsreform, um das auf 736 Abgeordnete angewachsene Parlament wieder kleiner zu bekommen. Er selbst war mit diesem Vorhaben in den eigenen Reihen gescheitert. Diese Reform sei nicht leichter geworden, räumt Schäuble jetzt ein. Aber: „Sie duldet ersichtlich keinen Aufschub.“

Am Ende applaudieren die Abgeordneten im Stehen – auch die der AfD ringen sich nach anfänglichem Zögern dazu durch. „Bringen Sie mich bitte nicht zu sehr in Rührung“, entfährt es Schäuble.

Bas übernimmt Amt von Schäuble

Jenseits der von der AfD in die Sitzung gebrachten Schärfe ist es ein sehr entspannter Tag im Reichstagsgebäude. Abgeordnete machen vor Beginn der Sitzung und in Auszählpausen Selfies. Olaf Scholz (SPD), der hier demnächst zum Kanzler gewählt werden will, lehnt entspannt an einer Abgeordnetenbank und plaudert mit der Grünen-Vorsitzenden Annalena Baerbock und Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt. Und Schäuble ruft fast keck „hallo, hallo“, als er das Ergebnis der Wahl seiner Nachfolgerin bekannt geben will. „Frau Präsidentin, bitte übernehmen Sie das Amt“, sagt er kurz darauf zu der mit großer Mehrheit gewählten Bärbel Bas.

Bärbel Bas ist die neue Präsidentin des Bundestags.
© ODD ANDERSEN

Erst einmal atmet die SPD-Politikerin am Rednerpult hörbar tief durch, was Heiterkeit bei den Abgeordneten auslöst. Ihre dann folgende Rede dürfte ganz im Sinne Schäubles sein. Denn auch sie mahnt eine Wahlrechtsreform an: „Ich fordere jetzt schon die Fraktionen auf, das Wahlrecht auf die Tagesordnung zu setzen.“

Bas fordert einen respektvollen Umgang miteinander im Bundestag und betont: „Wir sind nicht hier, um einander persönlich zu bekriegen.“ Zugleich macht sie deutlich: „Hass und Hetze sind keine Meinung. Als Präsidentin werde ich dieses Parlament vor Angriffen schützen. Und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen.“

Bas ruft die Abgeordneten dazu auf, sich in ihrer politischen Arbeit gleichermaßen um die Menschen zu kümmern, die sich von der Politik abgewandt haben, wie um die Mitte der Gesellschaft. Und das in verständlicher Sprache, um zu zeigen, „dass wir das Wohl aller im Blick haben“. Die SPD-Frau aus Duisburg macht es selbst vor.

Kanzlerin und Präsident verlassen die Gästetribüne im Anschluss. Sie sehen sich später im Schloss Bellevue wieder, wo Merkel und ihr Kabinett die Entlassungsurkunden erhalten. Steinmeier dankt vor allem Merkel für 16 Jahre Regierungsarbeit. Er spricht vom „Ende einer Kanzlerschaft, die man zu den großen in der Geschichte dieser Republik zählen kann“. Bis zur Bildung der neuen Regierung bleibt Merkel jedoch im Amt – wenn auch nur noch geschäftsführend.

Im neuen Bundestag sitzen 736 Abgeordnete.
© TOBIAS SCHWARZ