Kanzler Nehammer hält vorerst an Türkis fest, Opposition fordert Neuwahlen
Nach dem kompletten Rückzug von Sebastian Kurz baut die ÖVP im Regierungsteam kräftig um. Der neue ÖVP-Chef und designierte Kanzler Karl Nehammer bezeichnete es als "Privileg" die Volkspartei anführen zu dürfen und will die Parteifarbe Türkis vorerst beibehalten. ÖVP-Länderchefs und Grüne sind zufrieden. SPÖ, FPÖ und NEOS fordern Neuwahlen.
Wien – Die ÖVP hat sich nach dem Rückzug von Sebastian Kurz neu aufgestellt: Der bisherige Innenminister Karl Nehammer wurde am Freitag vom Bundesparteivorstand als neuer Kanzler und ÖVP-Chef designiert.
Im Innenministerium folgt ihm der Niederösterreicher Gerhard Karner nach, die Finanzagenden übernimmt der Vorarlberger und derzeitige Staatssekretär im Infrastrukturministerium, Magnus Brunner. Und der steirische Uni-Rektor Martin Polaschek löst Bildungsminister Heinz Faßmann ab.
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Angelobung am Montagvormittag
Interims-Kanzler Alexander Schallenberg kehrt ins Außenministerium zurück. Als Staatssekretärin holt sich Nehammer die Bundeschefin der Jungen ÖVP, Claudia Plakolm, ins Bundeskanzleramt.
Die Angelobung des neuen Kanzlers mitsamt seiner erneuerten Regierungsmannschaft soll Montagvormittag stattfinden. Die Grünen als Koalitionspartner der ÖVP hatten bereits klar gemacht, die Umbildung des ÖVP-Regierungsteams zu akzeptieren.
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Nehammer: "Große Ehre"
Nehammer betonte in der Pressekonferenz nach dem Bundesparteivorstand, dass es ihm eine "große Ehre" sei, "mit diesem Vertrauensvotum", das einstimmig ausgefallen sei, ausgestattet worden zu sein. Er bezeichnete es als "Privileg" die Volkspartei anführen zu dürfen, die in der Breite Österreichs vertreten sei, "um Politik für die Österreicherinnen und Österreicher und Menschen, die in Österreich leben, tatsächlich zu machen". Zudem lobte Nehammer seinen Vorgänger Kurz, der als Bundesparteiobmann "unglaublich viel geleistet" habe. Während dessen Obmannschaft sei die ÖVP "wieder eine Volkspartei" geworden.
Wichtig seien ihm die Grundwerte Verantwortung, Solidarität und Freiheit, ebenso wichtig sei ihm das Linie halten, was Asyl, Migration und Sicherheit betreffe. Das neue Team sei ein "gutes und ambitioniertes", und es sei "mein Team", sagte er auf eine Frage zur Einflussnahme der ÖVP-Landeshauptleute. Es handle sich um Experten, die er lange kenne, aber natürlich habe man sich gemeinsam abgestimmt.
Parteifarbei Türkis? Keine Zeit für "Marketingfragen"
Das auf Kurz hingeschneiderte Parteistatut mit starkem Durchgriffsrecht für den Bundesparteichef wird laut Nehammer bleiben, "es gibt keine Statutenänderung". Man könne nur schlagfertig arbeiten, wenn es Austausch und Kommunikation gebe, meinte er zu dieser Frage. Auf Kurz' bisher verbliebenen Kabinettschef Bernhard Bonelli und das gesamte dortige Team angesprochen, sagte der designierte Parteichef und Bundeskanzler: "Es wird auch hier Veränderungen geben und das Team verändert aufgestellt."
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Vorerst nicht gerüttelt wird derzeit an der türkisen Parteifarbe. Mitten in einer Pandemie sei nicht die Zeit dafür, sich über "Marketingfragen" Gedanken zu machen, sagte Nehammer.
Dank auch an Schallenberg
Nehammer dankte Schallenberg für die "herausragende" Arbeit, von Plakolm erwartet er sich "wertvolle Unterstützung" im Kanzleramt. Polaschek bezeichnete er als würdigen Nachfolger für Faßmann, der an ihn herangetreten sei und ihm die Freiheit geben wollte, in diesem ganz wesentlichen Bereich neu zu gestalten. Mit Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sei all dies besprochen, "in vertrauensvoller und enger Abstimmung".
Kurz hatte zwei Monate nach dem Abgang als Bundeskanzler wegen laufender Korruptionsermittlungen am Donnerstag seinen völligen Rückzug aus der Politik angekündigt. Zudem ließ Schallenberg am Abend wissen, dass er als Kanzler abtritt, wenige Stunden später gab schließlich Finanzminister Gernot Blümel den Abschied aus der Politik bekannt.
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Freude in ÖVP-Landesparteien, Platter lobt Nehammer
In den ÖVP-Landesparteien wird Nehammer durch die Bank als die richtige Persönlichkeit für den Job bezeichnet. Freude herrschte auch hinsichtlich der neuen Regierungsmitglieder, denn auch hierbei wurde auf ein gewisses Gleichgewicht unter den Ländern Augenmerk gelegt.
Für Tirols Landeshauptmann Günther Platter ist Nehammer "der Richtige", die Republik und die ÖVP "in ruhige Fahrwasser zu führen". Platter machte gleichzeitig aber "keinen Hehl" daraus, dass hinter Österreich und der Partei "herausfordernde Zeiten liegen". Tirol bleibe mit Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck in der Regierung vertreten, zeigte sich der Tiroler Landeschef zufrieden. Nehammer beschrieb er als "erfahrenen und geradlinigen Politiker", der für eine "konsequente Linie im Bereich der Leistungsbereitschaft und der Sicherheit" stehe. Platter bedankte sich zudem erneut bei Sebastian Kurz und Alexander Schallenberg.
Grünen-Chef Kogler zufrieden
Durchaus zufrieden mit der ÖVP-Neuaufstellung äußerte sich Freitag Vizekanzler Werner Kogler im Ö1-"Mittagsjournal". Er bekräftigte, dass er und andere Grüne eine "sehr gute Gesprächsbasis" zum neuen Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hätten – wenngleich man in Migrationsfragen bekanntermaßen "unterschiedliche Auffassungen" vertrete. Kogler sieht keinen Grund, jetzt das Regierungsprogramm neu zu verhandeln. Die Grünen stünden "zur Verantwortung und für Stabilität in der Regierung".
Es gebe einen aufrechten, "sehr guten" Koalitionsvertrag mit "großer grüner Handschrift". Da "brauchen wir nicht viel rumtun", meinte Kogler, sondern die anstehenden wichtigen Punkte nur "weiter umsetzen", etwa im Klimaschutz und der Modernisierung der Wirtschaft, "um uns aus der Pandemie rauszukämpfen". Die Frage, was die Grünen für ihre Zustimmung zum großen ÖVP-Umbau bekommen hätten, wies er zurück: Es sei jetzt "nicht die Zeit, sich wechselseitig Forderungen zu stellen".
Was Nehammers Haltung zu Flüchtlingsfragen betrifft, räumte Kogler ein, dass es einen "heftigen Konflikt" in der Frage der Abschiebung gut integrierter Mädchen gegeben habe.
Kickl: An Neuwahlen "führt kein Weg vorbei"
Die Opposition will angesichts der Turbulenzen in der ÖVP und der Regierungsumbildung Neuwahlen. Für FPÖ-Chef Herbert Kickl führt "kein Weg mehr vorbei" daran. NEOS-Parteichef Beate Meinl-Reisinger trat ebenfalls für Neuwahlen im kommenden Jahr ein und auch die SPÖ stünde dafür bereit, wie SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried betonte.
Kickl sieht die anderen Oppositionsparteien SPÖ und NEOS sowie den türkisen Regierungspartner, die Grünen, in der Pflicht, den Weg für Neuwahlen freizumachen. Die ÖVP dürfe mit ihrer "breit angelegten Kindesweglegung" nicht durchkommen. Die ÖVP versuche nun "in einer Art Notoperation, alle türkisen Zellen aus der Volkspartei zu entfernen" und tue so, als ob sie damit nichts mehr zu tun habe. Das Wahlergebnis von 2019 spiegle aber in keiner Weise die aktuelle Gemütslage innerhalb der Bevölkerung wider, so Kickl. Das mittlerweile aufgeflogene "ÖVP-Korruptionssystem" sowie das "skandalöse Verhalten der ÖVP in der Corona-Politik" seien Grund genug für Neuwahlen.
Meinl-Reisinger: Instabile Regierung mit Corona-Scherbenhaufen
Meinl-Reisinger meinte, es wäre besser den Souverän zu befragen. Zwar nicht im Lockdown, aber nach Bewältigung der Corona-Krise im nächsten Jahr sollte der Weg für Neuwahlen freigemacht werden, sagte die NEOS-Chefin in einer Pressekonferenz. Sie geht davon aus, dass eine handlungsfähige Regierung leichter über Neuwahlen zu erreichen sei. Diese Regierung ist für Meinl-Reisinger keine stabile und sie glaubt auch nicht, dass diese in der Lage ist, aktiv die Zukunft zu gestalten.
📽 Video | Meinl-Reisinger für Neuwahlen im kommenden Jahr
Die NEOS-Vorsitzende bezweifelte, dass es verantwortungsvoll sei, in dieser Situation eine Regierungsumbildung vorzunehmen. Es tut ihr "im Herzen weh", dass die ÖVP die höchsten Ämter als "parteipolitische Verschubmasse" behandle. Ihrer Ansicht nach steht die Regierung "vor dem Scherbenhaufen im Pandemie-Management". Und die ÖVP, gegen die auch von der Staatsanwaltschaft als Partei ermittelt werde, sei mit sich selbst beschäftigt. Meinl-Reisinger glaubt auch nicht, dass Nehammer als Bundeskanzler nun "das beste Zeichen" sei, zumal er als Generalsekretär Spitzenfunktionär der Partei war und als Innenminister offene Fragen, etwa zum Terroranschlag, hinterlasse. Und mit Gerhard Karner werde das Bestreben, das Innenministerium auf professionelle Beine zu stellen und weg vom Postenschacher zu führen, "zu Grabe getragen".
Leichtfried (SPÖ): "Zusammenbruch des türkisen Systems"
"Wenn diese Regierung nicht weiter zusammenarbeiten kann und eine Regierungspartei die Koalition beendet, dann ist die SPÖ jedenfalls bereit für Neuwahlen", betonte Leichtfried, wiewohl er dieses Szenario als "wenig wahrscheinlich" bezeichnet. Die ÖVP mache alles, um an der Macht zu bleiben, so Leichtfried in einer Aussendung. "Und auch die Grünen haben in den vergangenen zwei Jahren oftmals gezeigt, dass sie politisch viel schlucken, um in der Regierung zu bleiben."
Auch Leichtfried ortet einen "Zusammenbruch des türkisen Systems". Die ÖVP mache am Höhepunkt der Corona-Pandemie, mitten in einem Lockdown, ihre interne Krise zu einer Regierungs- und zu einer Staatskrise. Anstatt die Pandemie mit aller Kraft zu bekämpfen, seien die Türkisen mit internen Machtspielen und Postenbesetzungen beschäftigt. (TT.com, APA)