Vierschanzentournee

Startschuss für die Jubiläums-Tournee: Schneller, höher, enger

Karl Geiger zählt beim Wettfliegen um den Goldenen Adler zu den großen Mitfavoriten.
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Materialvorteil, mentale Stärke, Windglück: Für den Tourneesieg muss laut Ex-Skisprungstar Martin Schmitt und dem langjährigen Deutschland-Coach Werner Schuster beim 70-jährigen Jubiläum der Traditions-Veranstaltung alles zusammenspielen.

Von Benjamin Kiechl

Oberstdorf – Wenn Träume in den Himmel wachsen, dann ist die Vierschanzentournee nicht weit. 20 Jahre wartet Deutschland schon auf den ersten Sieg seit Sven Hannawalds „Grand Slam“ 2002. Sieben Jahre müssen sich die ÖSV-Adler bereits gedulden. Der Hightech-Sport Skispringen hat sich in den vergangenen Jahren stetig weiterentwickelt. Die Zeit der Revolutionen wie durch den V-Stil des Schweden Jan Boklöv vor gut 30 Jahren oder den gebogenen Bindungsstab des Schweizers Simon Ammann (2010) scheint vorbei, doch noch immer machen Innovationen einen Unterschied aus – und sei es nur, weil daraus ein psychologischer Vorteil resultiert. Die Eurosport-Experten Martin Schmitt und Werner Schuster gaben der TT einen Einblick in Tricks und Tücken des Skispringens.

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🏆 Anzüge: Die ÖSV-Adler testeten gestern im Training neue Anzüge, um in der Qualifikation auf bewährtes Material zurückzugreifen. Der FIS-Verantwortliche Mika Jukkara (FIN) kontrolliert genau. Das Reglement ist in diesem Winter noch strenger geworden, weiß Ex-Springer Martin Schmitt. „Die Anzüge sind im Vergleich zu den 2000er-Jahren relativ eng geworden. Früher gab es im Schrittbereich noch viel Fläche und einen gewissen Wingsuit-Effekt. Nun muss der Stoff am Körper anliegen.“ Neben dem Hüftband wird nun auch oberhalb und unterhalb genau gemessen.

🏆 Skiführung: Die Sprunghaltung mancher Athleten ähnelt einem H. „Es fällt auf, dass die Athleten im Sprung die Beine weit auseinander geben.“ Das hat laut Schmitt das Ziel, mehr Tragfläche im Schrittbereich zu bekommen. „Regeländerungen haben Auswirkungen auf die Technik. Früher hatte das Regelbuch drei Seiten, heute sind es 30!“, wirft der langjährige Deutschland-Trainer Werner Schuster ein. Beide glauben jedoch nicht, dass es zu großen Neuerungen kommt und irgendwann ein Springer wieder in der Luft zu rudern beginnt oder die Hände nach vorne nimmt.

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🏆 Psychologie: Auch wenn bei der Tournee aufgrund der Pandemie keine Fans in den Stadien erlaubt sind, das Interesse am Traditionsevent ist enorm. Schmitt erinnert sich an den Hype um Teamkollege Hannawald. „Es war etwas Historisches, bei der 50. Tournee zu gewinnen. Das war ein Mythos. Als Teamkamerad wusste man um die Bedeutung und dass da gerade etwas Großes passiert.“ Der 43-Jährige verweist auf die psychische Belastung und darauf, dass jeder Sportler anders damit umgehe. „Hannawald hat mit uns kaum kommuniziert, ich glaub’, ich war der Einzige im Team, mit dem er geredet hat. Er war in der Phase wie im Tunnel.“ Und noch ein Detail fällt Schmitt ein: „Hannawald hat extrem viel geschlafen.“

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🏆 Windregel: Seit über zehn Jahren (2009) wird der Wind-Faktor in die Ermittlung der Punktezahl eines Sprunges einbezogen. Die grüne Linie am Aufsprunghügel markiert die Weite, die ein Athlet für die Führung erreichen muss. Ex-ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel trat unlängst dafür ein, die Windregel fallen zu lassen. Schuster hält dagegen. „Ich bin verwundert über diesen Vorschlag von ihm. Ich kann nur sagen, dass diese Maßnahme den Sport in den vergangenen Jahren fairer und sicherer gemacht hat“, betonte der 52-jährige Kleinwalsertaler.

Man versuche durch die grüne Linie das Springen transparent zu machen. Die Windregel könne freilich nicht alles kompensieren, aber „es gibt nur ganz wenige Wettkämpfe, in denen man mit einem 10 Meter kürzeren Sprung gewinnt“. Schuster würde davon abraten, die Windregel aufzuheben. „Man soll besser verstärkt auf lokale Gegebenheiten bei der Windmessung achten!“

🏆 Anfahrtsluke: Wie sehr das Niveau im Skispringen gestiegen ist, zeigen die schnelleren Anfahrtsgeschwindigkeiten. Dadurch wird die Lukenwahl umso wichtiger. Schmitt wäre es ein Anliegen, dass die Jury die Anfahrtslänge von Beginn an klug wählt und nicht bei den besten Athleten im Feld verkürzen muss. „Es gab Weltcups, in denen man offensichtlich zu hoch gestartet ist. Für die Zuschauer ist es dann schwer nachvollziehbar, wenn die Besten früher landen und dann doch punktemäßig vorne sind.“

🏆 Heimvorteil: Auch ohne Fans gibt es den für Deutschland und Österreich, bekräftigt Schuster. Das liegt an den kurzen Wegen und dem Standortvorteil. „Die japanischen Athleten haben jeweils drei Sprunganzüge mit und müssen damit auskommen. Wir hingegen haben die Ausrüster gleich in der Nähe und können kurzfristig reagieren.“ Für Tournee-Spannung ist also gesorgt.