Tiroler Symphonieorchester Innsbruck: Die Welt außerhalb der Komfortzone
Eindrucksvoll: Das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck auf Augenhöhe mit Strawinskys einstigem Aufreger „Le sacre du printemps“.
Von Markus Schramek
Innsbruck – Quasi totale Maskerade im Saal Tirol, kalendarisch haben wir zwar Fasching, aber leider eben auch Dauercorona. Für Konzertbesucher ist ein FFP2-Behang vor Mund und Nase längst lästige Pflicht; und neuerdings musiziert das Tiroler Symphonieorchester Innsbruck (TSOI) aus freien Stücken ebenfalls fast vollzählig mit übergestreiften Anti-Virus-Schutzlappen, Bläser aus verständlichen Gründen ausgenommen.
Beim Höhepunkt des 3. Symphoniekonzerts der laufenden Saison (hier ist die Schreibe vom ersten Termin am Donnerstag) ist zusätzliche Prävention sicher kein Fehler: Denn bei Igor Strawinskys wegweisendem Meisterwerk „Le sacre du printemps“ wird es auf der Bühne richtig eng. Mehr als 90 MusikerInnen werden aufgeboten, um diesen Klangrausch in seiner ganzen Wirkmacht zur Entfaltung zu bringen. Dazu benötigt es zusätzliches Blasgerät en masse, Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotte, eine Vielzahl an Hörnern sowie lautstarkes Schlagwerk, platziert auf beiden Flanken des Orchesters.
Welch ein faszinierendes Schauspiel das abgibt, akustisch, na klar, aber auch visuell! Gebannt verfolgen Musikeraugen vorliegende Noten, um beim ständigen Tempo- und Rhythmuswechsel nur ja nicht zu spät dran zu sein. Da wird Schweiß von der Stirn gewischt, und TSOI-Chefdirigent Kerem Hasan, der sich am Pult völlig verausgabt, muss sich die Brille wieder geraderücken, so sehr gerät er auch selbst in Schwingung.
Strawinsky hat diesen selbst nach modernen Maßstäben immens innovativ wirkenden Musikexzess vor mehr als 100 Jahren für ein Ballett verfasst – mit folgendem inhaltlichen Ansatz: In heidnischer Zeit wird ein junges Mädchen vor den Augen alter, weiser Männer nach ekstatischem Tanz dem Frühlingsgott geopfert, auf dass dieser sich gnädig zeige. Na ja, ganz klar eine Männerphantasie.
In musikalischer Hinsicht übergeht „Le sacre du prin- temps“ damalige Konventionen, donnernd, stampfend, schrill, mitunter jenseits der Schmerzgrenze. Viel zu viel für das Pariser Publikum des Jahres 1913, als Strawinsky bei der Uraufführung gnadenlos ausgepfiffen wurde.
Für uns heutige HörerInnen erschließt dieses Werk hingegen neue Horizonte, die Welt außerhalb der Komfortzone. Das TSOI erweist sich als würdiger Wegbegleiter, zeigt sich den Schwierigkeiten gewachsen, entwickelt Dramatik, umschifft, unter Kerem Hasans wachsamem Taktstab, manche Klippe und beschert dem Publikum (immerhin mehr als 1000 Gäste an der Zahl) einen denkwürdigen Abend. Danke dafür!
PS: In Teil 1 des Konzerts steht Beethovens lieblich-bukolische 6. Sinfonie (Pastorale) auf dem Programm. An der Performance des TSOI gibt es wenig zu bekritteln. Im Vergleich zum folgenden Strawinsky-Feuerwerk ist Beethoven an diesem Abend jedoch nur eine freundliche, wohlklingende Draufgabe.