François Truffauts 90er: Kutschenfahren im Wilden Westen
In den 1960er-Jahren löste er die neuen Wellen im Kino aus, seine späteren Meisterwerke sind heute fast vergessen. Dieser Tage wäre François Truffaut 90 geworden.
Von Joachim Leitner
Innsbruck – Als Steven Spielberg bei den Dreharbeiten von „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ (1977) seinem Kameramann eine unmögliche Einstellung abverlangte, hat der dem Regisseur empfohlen, das Inszenieren doch besser jemandem zu überlassen, der etwas davon versteht. Dabei soll er auf François Truffaut gedeutet haben, der in dem Science-Fiction-Spektakel einen Wissenschafter spielte.
Spielberg hat sich Truffaut als Darsteller gewünscht. Nicht etwa, weil Truffaut ein besonders herausragender Schauspieler war, sondern als Signal: Spielberg wollte einen Autorenfilm machen und Truffaut war der Autorenfilmer schlechthin. Er hat seine „Politique des Auteurs“ schon propagiert, bevor er anfing, Filme zu machen. 1954 mit gerade einmal 22 Jahren forderte Truffaut – damals noch ein Filmkritiker unter vielen – in seiner Polemik „Eine gewisse Tendenz im französischen Film“ ein Um-, Neu- und Weiterdenken des Filmemachens. Er rechnete mit dem französischen Nachkriegskino ab, konstatierte schön ausgestattete Langeweile, große Gesten, gewichtige Themen und Personal aus Papier. Der Text war als Manifest geplant und wurde als solches gelesen. Er machte Truffaut berühmt. Und berüchtigt. Noch 1958 wurde ihm die Akkreditierung für das Festival in Cannes wegen Respektlosigkeit verweigert. Im Jahr darauf war er willkommen. Für sein Spielfilmdebüt „Les Quatre Cents Coups“ wurde er als bester Regisseur ausgezeichnet. In seltener Treffsicherheit denkt der deutsche Verleihtitel des Films, der neben Godards „Außer Atem“ den Aufbruch der „Nouvelle Vague“ bedeutete, diese Hassliebe mit: „Sie küssten und sie schlugen ihn“.
„Sie küssten und sie schlugen ihn“ erzählt auch Truffauts eigene Geschichte: das Großwerden in einem lieblosen Elternhaus, die Besserungsanstalt, die Flucht vor allem und jedem ins Kino. Anders als sein Mitstreiter Jean-Luc Godard – die Beziehung der Freunde wurde mit jedem Jahr eisiger – war François Truffaut als Regisseur kein vordergründiger Revolutionär. Godard verabschiedete sich nach seinen frühen Triumphen in den kinematographischen Untergrund. Truffaut packte seine Suche nach einem wahrhaftigeren Kino in zugänglichere Filme. Von der Heiterkeit sommerlicher Nachmittage über alle Variationen glücklicher und unglücklicher Lieben bis zur Todessehnsucht ist seinen Filmen kaum eine menschliche Regung fremd. Gerade sein verspieltes Frühwerk ist stilbildend: „Schießen Sie auf den Pianisten“ (1960) und „Jules und Jim“ (1962) mit Jeanne Moreau und Oskar Werner.
1966 drehte er – ebenfalls mit Oskar Werner – „Fahrenheit 451“, Truffauts einziger Ausflug in die englische Sprache. Warren Beatty hat ihm daraufhin „Bonny und Clyde“ angeboten. Truffaut lehnte dankend ab. An Hollywood interessierte ihn nicht die Arbeit, sondern die, die dort arbeiteten. Alfred Hitchcock zum Beispiel. Den hatte er schon als Filmkritiker vom Spannungshandwerker zum Seelenkünstler geadelt. 1962 hat er ihn 50 Stunden lang interviewt. Das Buch, das daraus wurde, „Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?“, zählt bis heute zu den großen Werken der Kinoliteratur.
Truffauts vielleicht schönster Film, „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“ floppte 1971 schmerzhaft. Auch „Das grüne Zimmer“ (1978) harrt der Wiederentdeckung. Dafür wurde „Die letzte Metro“ (1981) zum Kassenschlager. „Die amerikanische Nacht“ (1973), ein irrwitziger Film-im-Film-Insiderschmäh, gewann sogar den Oscar. Der Filmemacher François Truffaut spielt darin einen Filmemacher, der das Filmemachen mit einer Kutschenfahrt durch den Wilden Westen vergleicht: „Zu Beginn hofft man noch auf eine schöne Reise. Und sehr bald fragt man sich, ob man wohl am Ziel ankommen wird.“ Für Truffaut kam das Ziel früh. Er starb am 21. Oktober 1984 im Alter von 52 Jahren an einem Hirntumor. Am 6. Februar jährt sich sein Geburtstag zum 90. Mal.