Kehrtwende: Deutschland rüstet auf und hilft Kiew mit Waffen
Deutschland hat angekündigt, der Ukraine Hunderte deutsche Panzer- und Luftwehrraketen zu liefern. Der ukrainische Botschafter in Berlin, Andrij Melnyk, sprach von einem historischen Schritt. Gleichzeitig stockt die deutsche Regierung auch die Ausgaben für die eigene Landesverteidigung massiv auf.
Berlin – Als Reaktion auf die russische Invasion in der Ukraine vollzieht Deutschland eine Kehrtwende seiner Außen- und Sicherheitspolitik. Bundeskanzler Olaf Scholz kündigte in einer Sondersitzung im Bundestag am Sonntag einen massiven Ausbau der Streitkräfte durch ein "Sondervermögen Bundeswehr" an und will dafür auch das Grundgesetz ändern. "Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten", sagte er in einer Regierungserklärung.
Die Mittel sollten für Investitionen und Rüstungsvorhaben genutzt werden. "Wir werden von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren", kündigte Scholz an. "Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit." Zudem kündigte er den beschleunigten Bau von zwei LNG-Terminals an.
Bundeswehr erhält 100 Milliarden Euro für Rüstungsvorhaben
Angesichts des russischen Angriffs auf die Ukraine will Deutschland die Bundeswehr massiv aufrüsten. Über ein Sondervermögen soll sie 100 Milliarden Euro für Investitionen und Rüstungsvorhaben erhalten. Deutschland müsse jetzt alles tun, was für die Sicherung des Friedens in Europa gebraucht werde, sagte Scholz. Dafür brauche die Bundeswehr aber "neue, starke Fähigkeiten". "Klar ist: Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen", sagte Scholz.
Das Ziel sei eine leistungsfähige, hochmoderne und fortschrittliche Bundeswehr. "Aber machen wir uns nichts vor: Bessere Ausrüstung, modernes Einsatzgerät, mehr Personal – das kostet viel Geld", sagte Scholz. Er forderte alle Fraktionen des Bundestags auf, das Sondervermögen im Grundgesetz abzusichern.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) will den Haushalt für 2022 am 9. März dem Kabinett vorlegen. "Die Stärkung der Verteidigungsfähigkeit wird vom Randthema zum zentralen Zukunftsprojekt", schrieb er auf Twitter. "Wir werden die größten und schnellsten Steigerungen der Verteidigungsausgaben unserer jüngeren Geschichte auf den Weg bringen", sagte Lindner zu.
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz befürwortete eine bessere Ausstattung der Bundeswehr. Er betonte aber, ein Sondervermögen bedeute zunächst einmal auch die Aufnahme neuer Schulden. "Darüber müssen wir dann in Ruhe und im Detail sprechen", sagte er.
Scholz betonte, die Anhebung der Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent der Wirtschaftsleistung passiere nicht nur, weil man es Alliierten versprochen habe. "Wir tun dies auch für uns, für unsere eigene Sicherheit." Zuletzt lag Deutschland bei 1,55 Prozent und damit sehr weit vom Ziel entfernt.
Technologisch müsse die Bundeswehr auf der Höhe der Zeit bleiben, sagte Scholz. Deshalb habe etwa der Bau einer nächsten Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit Frankreich oberste Priorität. Auch die Anschaffung der bewaffneten Heron-Drohne aus Israel werde vorangetrieben.
Der Bundeswehrverband hatte zuletzt ein Sofortprogramm zur Verbesserung der Ausrüstung der Truppe gefordert. Im Bereich Munition, Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge und Ersatzteile gebe es massive Probleme. Heeresinspekteur Alfons Mais hatte am Donnerstag Alarm geschlagen, was die Ausrüstung der Bundeswehr angeht. In seinem 41. Dienstjahr im Frieden habe er nicht geglaubt, noch einen Krieg erleben zu müssen. "Und die Bundeswehr, das Heer, das ich führen darf, steht mehr oder weniger blank da", sagte er.
Scholz sprach von einem historischen Einschnitt. "Wir erleben eine Zeitenwende", sagte der Kanzler in der emotionalen Debatte in der Sondersitzung. Die Abgeordneten aller Fraktionen bis auf die AfD erhoben sich, um denjenigen Russen zu applaudieren, die in ihrer Heimat den Krieg kritisierten und den ukrainischen Botschafter Andreij Melnyk stellvertretend für die mehr als 40 Millionen Ukrainer zu begrüßen.
Scholz und andere Redner warfen Russlands Präsidenten Wladimir Putin vor, mit dem Angriff auf die Ukraine in eklatanter Weise Völkerrecht verletzt zu haben. Viele Redner machten Putin persönlich für den Krieg verantwortlich. Scholz nannte ihn einen Kriegstreiber, CDU-Chef Friedrich Merz einen Kriegsverbrecher. Außenministerin Annalena Baerbock mahnte, dass in diesem Konflikt niemand neutral sein könne. Auch AfD-Co-Fraktionsvorsitzende Alice Weidel und Linken-Co-Fraktionchef Amira Mohamed Ali sprachen von einem "Angriffskrieg" Russlands. FDP-Chef und Finanzminister Christian Lindner betonte das Recht der Ukraine, selbst über einen Weg des Landes nach Westen und für Demokratie zu entscheiden. "Es ist ein Angriff auf uns alle." Man werde in dieser Woche im G7-Rahmen entscheiden, wie man der Ukraine mehr helfen könne.
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Waffen aus Beständen der Bundeswehr
Bisher hatte die Ampel-Regierung eine massive Aufstockung des Wehretats abgelehnt und im Koalitionsvertrag ein Bekenntnis zur Selbstverpflichtung der NATO-Staaten vermieden, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Sicherheit auszugeben. Scholz betonte nun, dass der russische Angriff ein Zäsur bedeute. Wichtig sei, dass Europa auch technologisch mithalte und die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern wie Frankreich baue. "Diese Projekte haben oberste Priorität für uns", betonte der Kanzler.
Für die sogenannte nukleare Teilhabe werde die Regierung rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornado-Jets beschaffen. Bis die Flugzeuge, die US-Atomwaffen im Konfliktfall ins Ziel bringen können, einsatzbereit seien, werde der Eurofighter weiterentwickelt. Scholz legte sich damit nicht fest, welches Flugzeug Deutschland als Tornado-Nachfolge beschaffen wird. Der Eurofighter solle zur elektronischen Kriegsführung befähigt werden. "Das Kampfflugzeug F-35 kommt als Trägerflugzeug in Betracht", sagte er lediglich.
Außenministerin Baerbock bekannte auch eine Kurskorrektur der Ampel-Regierung bei der bisherigen Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine. "Vor wenigen Wochen noch habe ich hier in diesem Saal zum Thema Waffenlieferungen gesagt, dass man eine außenpolitische 180-Grad-Wende im richtigen Moment und bei vollem Bewusstsein unternehmen muss. Jetzt ist der Moment dafür", sagte sie. Die Ukraine habe ein Recht auf Selbstverteidigung. Das müsse man unterstützen. Scholz hatte am Samstag bekannt gegeben, dass Deutschland der Ukraine unter anderem um 1.000 Panzerabwehrwaffen und 500 Flugabwehrraketen des Typs Stinger liefern werde.
Unions-Fraktionschef Friedrich Merz bot der Ampel-Regierung Unterstützung für die Aufstockung des Bundeswehretats an. Allerdings könne es nicht so sein, dass die Ampel für die Wohltaten zuständig sein, die Opposition aber ein verfassungsrechtlich schwieriges Instrument wie ein Sondervermögen mittragen solle. Dabei handle es sich nicht um ein Vermögen, sondern eine Neuverschuldung.
Baerbock verteidigte den von westlichen Staaten vereinbarten Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen westlichen Zahlungssystem Swift. Man habe diesen Ausschluss sorgfältig und zielgerichtet vorbereiten müssen. "Wir müssen sicherstellen, dass uns nach drei Monaten nicht die Puste ausgeht", sagte sie. Die Sanktionen müssten "das System Putin im Kern treffen" - wirtschaftlich, finanziell und individuell.
"Wir werden Russland isolieren", sagte Finanzminister Lindner. Die Sanktionen seien auf Dauer angelegt. Man sei bereit, die negativen Auswirkungen auch für Deutschland zu tragen. "Denn sie sind der Preis der Freiheit." Man werde etwa Reserven an Kohle und Gas aufbauen, aber auch die Erneuerbare Energie rasch ausbauen. "Denn Erneuerbare Energien sind Freiheits-Energien", sagte Lindner.
AfD-Co-Fraktionsvorsitzende Weidel kritisierte, dass es über Jahrzehnte nicht gelungen sei, der Ukraine einen sicheren Status zu geben. Es sei ein historisches Versagen, Russland zu kränken und an einer unrealistischen NATO-Perspektive der Ukraine festzuhalten.
Deutschland hatte sich in der zuspitzenden Ukraine-Krise beständig immer intensiveren Aufforderungen nach Waffenlieferungen verschlossen. Die deutsche Linie hinderte auch NATO-Partner daran, Rüstungsgüter aus deutschen Beständen nach Kiew zu liefern. Infolge der deutschen Kehrtwende kann nun etwa Estland mehrere Haubitzen aus DDR-Produktion der ukrainischen Armee übergeben. Auch die Niederlande können nun 400 Panzerfäuste aus deutscher Produktion in die Ukraine exportieren.
Deutschland liefert nun Waffen aus den Beständen der Bundeswehr an die Ukraine. Wie Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Samstag mitteilte, werden die ukrainischen Streitkräfte mit 1000 Panzerabwehrwaffen sowie 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ Stinger unterstützt. Die Waffen würden so schnell wie möglich an die Ukraine geliefert.
Weitere Länder wollen Waffen liefern
Neben Deutschland kündigten auch andere westliche Staaten eine stärkere militärische Unterstützung der Ukraine an. So teilte der Elysée-Palast am Samstag nach einer Sitzung des Verteidigungsrates mit, dass Frankreich mehr militärische Ausrüstung und Kraftstoff geliefert werden soll. Details wurden nicht genannt.
Die Niederlande wollen 200 Stinger-Flugabwehrraketen liefern, Belgien 2.000 Maschinengewehre. Die US-Regierung kündigte an, der Ukraine bis zu 350 Millionen US-Dollar (312 Millionen Euro) zur "sofortigen Unterstützung der Verteidigung" zur Verfügung zu stellen. Die neue Lieferung soll auch Panzerabwehrlenkwaffen vom Typ Javelin umfassen. Rumänien kündigte an dem Nachbarland Ukraine umgehend Munition, schusssichere Westen, Militärhelme, sonstige militärische Ausrüstung, Treibstoff, Wasser, Lebensmittel, Arzneimittel sowie medizinische Hilfsgüter zukommen zu lassen.
Auch aus dem baltischen EU- und NATO-Land Litauen erhielt die Ukraine weitere Militärhilfe. "Litauische Truppen beendeten ihre logistische Operation vor Mitternacht und lieferten Waffen, Munition, Helme und gepanzerte Westen", schrieb der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas am Sonntag auf Twitter. Nach seinen Angaben sendeten insgesamt 13 NATO-Staaten der Ukraine bereits militärische Hilfe in Form von Waffen, Munition und Flug-und Panzerabwehrraketen. Litauen hatte zuvor bereits in den USA hergestellte Stinger-Flugabwehrraketen in die Ukraine geliefert. (APA/dpa/Reuters/AFP)