„Adern" von Lisa Wentz: Liebevoller Blick in geschundene Seelen
„Adern“ von Lisa Wentz aus Schwaz ist ein Volksschauspiel ohne Pathos und Klischee. Starke Uraufführung am Akademietheater in Wien.
Von Markus Schramek
Wien – Werte Talentescouts, DramaturgInnen oder ganz generell GenießerInnen gehaltvoller Theaterabende! Bitte jetzt freundlicherweise ganz genau weiterlesen, und das steht hier nicht nur aus blankem Eigennutz. Ein Tiroler Volksschauspiel ohne Derbheit und übertriebenes Provinzlertum, ohne älplerische Borniertheit, unter Verzicht auf krachende Dialektsalven mit gutturalem kkkkkkkka: Ja, das gibt es.
Lisa Wentz aus Schwaz blickt in ihrem preisgekrönten Einakter „Adern“ liebevoll tief hinein in geschundene (Tiroler) Seelen im Nachhang des 2. Weltkriegs. Den Input liefert der 27-jährigen Autorin die Geschichte ihrer Uroma, natürlich mit allen schreiberischen Freiheiten.
Was für eine schöne Story das geworden ist! Für die Generation Tinder mag es ja Standard sein, wenn sich zwei Menschen, die nur schriftlich verkehrten, dann wirklich gegenüberstehen. Da kann der Dialog schon etwas holpern. Vermutlich viel mehr noch so im Jahr 1953, als Aloisia und Rudolf einander am Bahnhof Brixlegg erstmals begegnen. Rudolf, Witwer mit fünf Kindern, sucht per Annonce eine zweite Frau. Aus St. Pölten kommt, um schlussendlich zu bleiben, Aloisia samt Tochter, dem Kind eines Besatzungssoldaten.
Aloisia verdaut den Kulturschock im Tiroler Unterland: diese Sprache, diese Armut, dieser schwer zugängliche, trauernde Witwer, der sich als Kumpel im örtlichen Bergwerk die Gesundheit ruiniert. Die beiden heiraten und haben später zusammen ein weiteres Kind. Sie: „Schwanger bin ich halt.“ Er: „Ach so.“ Mehr an Worten braucht es nicht, wenn man sich mag.
Uraufgeführt wurde „Adern“ vorgestern Sonntag – nicht in Tirol. Wentz gewann mit dem Stück im Vorjahr den Retzhofer Dramapreis in Graz und damit auch die Zusage, an einer Bühne des Burgtheaters in Wien gespielt zu werden. Geworden ist es das Akademietheater. Wahrlich ein Debüt, auf das die junge Autorin, derzeit noch Studentin im Fach „Kreatives Schreiben“ in Berlin, stolz sein darf.
Zumal das befasste Team um Regisseur David Bösch zeigt, wie man ein Volksstück, ohne überflüssigen Tand und ohne bemüht authentisch wirken zu wollen, effektvoll umsetzt.
Hurtig wechseln Szenen wie Schnitte im Film. Mancher Schnitt überbrückt eine Zeitspanne von mehreren Jahren. Als Betrachter behält man aber den Überblick.
Per Halbdrehung des genial einfachen Bühnenbilds (Patrick Bannwart) wird aus der kargen häuslichen Bleibe ein stockdunkler Bergwerksschacht, in dem Rudolf, unter schmerzhaft explosivem Donner, vom Trauma seines Lebens gepeinigt wird. Was im Krieg geschah, darüber schweigt er, selbst wenn er, verleitet von Trunkenbold Danzel (beklemmend gut gespielt von Daniel Jesch), dem Schnaps zuspricht.
Markus Hering ist als Rudolf ein knorriger, sturer Bock, mit einem übergroßen Herzen voller Wärme, die es nicht immer nach außen schafft. Sarah Viktoria Frick spielt Aloisia als resolute, liebenswürdige Frau. Sie ist ihrem anfangs distanzierten Gespons um Längen voraus (Männer kennen dieses Phänomen). Ergibt ein schönes Paar in Runde 2, vom Schicksal gebeutelt, von diesem aber auch zusammengeführt.
Final setzt tosender Beifall ein – für das Ensemble und für Lisa Wentz, die von etlichen Tiroler Landsleuten nach Wien begleitet wurde.
„Adern“ schafft es seinerseits 2022/23 nach Innsbruck. Das Tiroler Landestheater nimmt Wentz’ Stück im letzten Jahr der Intendanz Johannes Reitmeiers in den Spielplan auf. Die Messlatte liegt nach der starken Uraufführung in Wien nun hoch.