1938–2022

Ausländische Zeitungen würdigen Nitsch: „Marathon-Provokateur vor dem Herrn“

Hermann Nitsch starb im Alter von 83 Jahren.
© Thomas Böhm

Vor allem in deutschen, italienischen und spanischen Zeitungen ist der gestern bekannt gewordene Tod des österreichischen Malers und Aktionskünstlers Hermann Nitsch am Mittwoch ein Thema. Im Folgenden einige Auszüge aus Nachrufen.

"Süddeutsche Zeitung" (München):

"Menschen, die unbedingt provozieren wollen, sind häufig die größten Moralisten. Wenn also Hermann Nitsch, ein Marathon-Provokateur vor dem Herrn, über 60 Jahre scheinreligiöse Blutorgien veranstaltete, und dafür bis heute der Blasphemie und der Grausamkeit beschuldigt wird, dann ist das für alle weniger empfindlichen Menschen ein klarer Hinweis: Hier waltet priesterlicher Aufrüttelungswille mit dem Ziel des besseren Menschen. (...) Sein anregender Einfluss verbreitet sich vorbildhaft für alle Künstlerinnen und Künstler, die Grenzen überschreiten wollen, und dabei eine moralische Idee von Leben in Einklang verfolgen. Am Ostermontag hat der Orgienpriester des heilenden Exzesses im Alter von 83 Jahren nun den Übergang des Todes selbst erlebt. Das Datum könnte nicht schöner getroffen sein für einen von der Kreuzigungsgeschichte besessenen Erlöserkünstler."

"Die Welt" (Hamburg):

"Er war in der Kunst, was Marilyn Manson in der Rockmusik ist. Anders denn als publikumsfreundliches Monster haben wir auch Hermann Nitsch nie erlebt. Voller Weißbart, krummer Rücken, schwarz angezogen vom Hut bis zur Socke und immer zu einer drohenden Aktion aufgelegt, die im günstigsten Fall die Dimension eines antiken Schlachtopfers annahm. (...) Bilder sind nicht einfach gemacht, sie erscheinen zugleich. Und dieses Erscheinen gibt ihnen etwas Mysteriöses. Und vielleicht hat aus dem mysteriösen Mehrwert niemand so besessen ästhetisches Kapital geschlagen wie der österreichische Heavy-Metal-Maler Hermann Nitsch, der bis ins hohe Alter die Malwände mit Farbe besprengte und hinterher meist einen etwas traurig ergebenen Eindruck machte."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung":

"Sein internationaler Durchbruch war wohl die Einladung zum Londoner "Destruction in Art"-Symposium 1966 - oder eher der medienwirksame Abbruch jener Aktion durch die Polizei, worauf Ausstellungs- und Performanceangebote aus der ganzen Welt folgten. Während aber seine Wiener Mit-Aktionisten damals tatsächlich in existenziell selbstquälerischen Autoperforationen ihr eigen Blut aus sich herausholten, transformierte Nitsch den Vorgang sehr bald schon in Malerei. (...) Andererseits nahm der österreichische Künstler insbesondere in seinen wagnerianischen Gesamtkunstwerken der von 1971 an auf dem von ihm erworbenen Schloss Prinzendorf veranstalteten "Orgien Mysterien Spielen" unverhohlen Bezug auf die christliche Eucharistie, in der göttliches Opferblut zum Wegwaschen und Tilgen der Sünden vergossen wird."

"Neue Zürcher Zeitung":

"Bestimmend für Nitschs Konzept des OMT, in dem auch die Sprache überwunden werden sollte, waren die Themen Tod, Leiden und Auferstehung. Dass seine "realen Inszenierungen" von Vertretern der Kirche verdammt wurden und immer wieder auch Tierschützer auf den Plan riefen, lag wohl in der Natur der Sache begründet. (...) Die Verknüpfung von realen Tierkadavern mit religiösen Inhalten sollte dazu anregen, über Verdrängtes nachzudenken. Doch neben der intendierten kathartischen Wirkung auf die Betrachter hat ihm sein sogenanntes Abreaktions-Theater in Österreich Prozesse, Gefängnisstrafen wegen Beleidigung, Blasphemie und Erregung öffentlichen Ärgernisses eingebracht. (...) Inzwischen sind seine Schüttbilder und die befleckten Messgewänder von den Aktionen wertvolles Ausstellungs- und Sammlergut, und wenn man sich den teilweise reaktionären Tonfall in alten Presseberichten vor Augen führt, kann man die Genugtuung des Künstlers angesichts seiner in späteren Jahren allmählich zementierten Anerkennung nachvollziehen."

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"Corriere della Sera" (Mailand):

"Nitsch, der umstrittene Vater des Wiener Aktionismus und kontroverser Experimentator mit Installationen, die geschlachtete Tiere und nackte Menschen vermischte, ist im Krankenhaus von Mistelbach gestorben, das ihm ein Museum gewidmet hatte. Nitsch entwickelte das Orgien Mysterien Theater, das eine allumfassende und brutale Erfahrung zugleich sein wollte. Dieses Theater mit seinen Exzessen kostete Nitsch ständige Probleme mit der Zensur, als Künstler war er mehr gehasst als geliebt."

"La Stampa" (Turin):

"Der umstrittene Künstler Hermann Nitsch ist im Alter von 83 Jahren gestorben. Neapel war Nitschs zweite Heimat und zwar dank des Mäzenen Giuseppe Morra, der Nitsch in einer Ex-Fabrik ein Museum und Archiv gewidmet hat."

"Il Messaggero" (Rom):

"Österreich verabschiedet sich von Nitsch, einem 'Genie des Blutes', einem umstrittenen Künstler, der mit seinen Installationen mit geschlachteten Tieren und nackten Menschen für Eklat gesorgt hat. Nitsch ist zwei Tage vor der Einweihung einer Ausstellung in Venedig zu seiner 20. Malaktion 1987 gestorben."

"El Mundo" (Madrid):

"Hermann Nitsch, der österreichischer Künstler, der für seine extreme Performance und Körperkunst bekannt ist, starb am Montag im Alter von 83 Jahren. Sein Vermächtnis ist weit und umfasst Musik, Mode und Landschaften, aber Nitschs Name wird vor allem durch seine Gemälde mit Blut, Eingeweiden und Fleisch identifiziert. (...) Es sind erstaunliche Bilder, die für immer mit dem österreichischen Künstler verbunden sind: die hohen Wände des Wiener Secessionspavillons, blutrot getränkt nach einer vermutlich zermürbenden Action-Painting-Session. Gekreuzigte Männer. Inszenierungen, die Foltersessions reproduzieren... So war die Avantgarde-Kunst der 70er-Jahre."

"La Vanguardia" (Barcelona):

"Mit Hermann Nitsch verliert Österreich einen seiner berühmtesten und umstrittensten Avantgarde-Künstler, denn der vielseitige Nitsch hat seine provozierende und kritische Haltung gegenüber der konservativen österreichischen Gesellschaft nie aufgegeben. Als einer der Hauptvertreter des in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts entstandenen "Wiener Aktionismus" galt er als entschiedener Gegner traditioneller und selbstgefälliger Kunst und entwickelte seinen eigenen, eigenständigen Stil." (APA)

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